In Teil 1 der Serie „Die Welt der langen Strecken“ hat Basilia uns die Welt der langen Strecken etwas näher gebracht. Heute nimmt sie uns mit in die mentale Welt eines Ultras. Begeben wir uns auf eine spannende Reise.
Du hast den ersten Artikel gelesen. Der Schleier über dem Mythos Ultratrail hat sich gelichtet. Dann komm mit an die Startlinie. Begleite mich – heute noch virtuell, bald schon real. Entscheide selbst wie lange. 50, 120, 170, 200 Kilometer? Du kannst jederzeit aussteigen. Aber warum solltest Du? Ich bin überzeugt, mit der richtigen Mentalstrategie kann man jedes Rennen finishen. Vorausgesetzt die Vorbereitung und Ausrüstung passt. Aber das sind Themen der kommenden beiden Artikel. Und vorausgesetzt, man bleibt von einer Verletzung verschont.
Den Ultra gewinnt man im Kopf!?
Die Beine laufen, aber der Kopf gibt die Kommandos. Solange diese Aufteilung funktioniert, ist alles gut. Das Kontrollzentrum ist stabil, unermüdlich. Die Beine an ihre Grenzen zu bringen geht erheblich schneller. Ich habe nur einmal erlebt, dass mein Kontrollzentrum kurzzeitig verrücktspielte. Da war ich schon 40 Stunden ohne Schlaf unterwegs. Halluzinationen setzten ein. Das Rascheln meines Rucksacks ging allmählich in ein immer stärker vernehmbareres Gespräch zweier Frauen über. Wurzeln in der dunklen Bergwelt veränderten sich in zusammengekauerte Menschen. Ich ging hin, um ihnen zu helfen. Da kehrte sich die Verwandlung wieder um. Die Wurzeln waren wieder da. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück hatte ich schon von Halluzinationen bei Schlafentzug gelesen. Meine Kommandozentrale strauchelte, aber sie behielt das Kommando. Sie spürte, dass etwas Surreales passierte und stellte sich darauf ein. In einer solchen Extremsituation war es – dank meinem Commander in Chief – möglich, noch 5 Stunden bis ins Ziel weiterzulaufen. Da kann ich zu Recht vertrauen. Da können Krisen kommen, aber mein Vertrauen ist grenzenlos. Vertrauen in mich. Vertrauen auf ein erfolgreiches Finish. Vertrauen, mit Krisen fertig zu werden. Vertrauen, #trust. Die englische Version ist kürzer, greifbarer, als Mantra eingängiger. Meine Beine können müde werden, meine Kommandozentrale ist hellwach. Das Finish ist die einzige Option. #trust.
„DNF is no option“ – das klingt zunächst nach einem Spruch aus der „no pain no gain“-Rubrik. Männersprüche nenne ich das immer schmunzelnd.
„DNF is no option“ – das ist jedoch viel mehr als ein Instagram-hashtag oder T-Shirt-Aufdruck. Das ist selbstgewählte Alternativlosigkeit. Es ist der Rahmen für die einzelnen Mentaltechniken. Der Claim mag spektakulär anmuten, die Umsetzung ist es deutlich weniger. Meine Strategie setzt sich aus fünf Teilen zusammen.
Mentalstrategie in der Praxis: Fünf Schritte zum erfolgreichen Finish
1: Es gibt keinen Platz für vorhersehbar gewesene Überraschungen. Die unvorhersehbaren sind auf einem Ultratrail schon mehr als genug. Vor kurzem war ich Betreuerin bei einem Ultratrail und wartete am Streckenrand. Die Läufer hatten noch die Hälfte vor sich. Ich sah viele leidende, dehydrierte Läufer. Immer die gleiche Frage. „Wie weit ist es noch zur nächsten Verpflegung?“. Der Lauf war bestens organisiert. Die Kilometerangaben exakt. Es war ein unnötiges Problem.
Ich verfüge über eine unglaublich schlechte Orientierung. Viele Freunde behaupten, ich bin nur deshalb Ultraläuferin geworden, weil ich mich im Training so oft verlaufen habe. Quasi jeder Lauf ein Ultra. Vielleicht habe ich genau deswegen damit begonnen, mir die Strecke eines Ultratrails en detail einzuprägen. Wann geht’s rauf, wann runter. Welche Steigung? Welcher Untergrund? Wann wird’s dunkel, wann wieder hell? Verpflegungsposten. Wie oft, wo und vor allem was? Ich bin Italienerin – da muss das Essen passen.
Ich frage mich: Wie wird es mir auf den einzelnen Abschnitten gehen? Wann kommen Tiefs? Aber auch: Wo muss ich mich zurückhalten?
2: Body & Mind bleiben zusammen. Oft werde ich gefragt, an was ich während des Rennens denke. Die Antwort klingt einfach. Die Umsetzung ist unglaublich schwer. Gedanken haben die Eigenschaft, sich von der Gegenwart zu entfernen. Sie springen in die Zukunft oder versinken in der Vergangenheit. Das ist verführerisch.
Abschweifen von der momentanen Belastung lässt den Schmerz vergessen. Zumindest für eine Weile. Aber das ist wie Autofahren ohne auf das Dashboard zu blicken. Je länger die Fahrt, das Rennen dauert, umso gefährlicher wird das. Auch ich bin davor nicht gefeit. UTMB 2017. Die erste Nacht hatte ich überstanden. Ich kam immer besser in Fahrt. Der Sonnenaufgang brachte meine Glücksgefühle zum Tanzen. Die Gedanken waren weit weg, in der Ferne, schon in Chamonix, auf der Ziellinie. Auf einmal spürte ich Schwindel. Der wurde immer stärker. Was war passiert? Ich hatte vergessen zu essen. Meine Gedanken waren nicht bei mir. Ich habe Dank der aufmerksamen Betreuer gerade noch die Kurve gekriegt. Die restlichen 15 Stunden glich mein gedankliches Logbuch einer permanenten Abfolge immerfort gleicher Fragen. Ist noch Energie im Tank? Habe ich Durst? Ist mir kalt? Wie geht es meinen Füßen? Und so weiter. Ich versicherte mich zu jeder Zeit, dass alle Lampen auf meinem Dashboard im grünen, zumindest im gelben Bereich leuchten.
Denke ich an das Dashboard meines Autos, fällt mir sofort die Geschwindigkeitsanzeige ein. Ich laufe nicht nur gern schnell, ich fahre auch gern schnell Auto. Da gibt es Parallelen auch abseits der Tank-, bzw. Energie-Thematik. Sobald ich an etwas anderes denke, fahre ich langsamer – laufe ich langsamer. Ein hohes Tempo zu halten, verlangt kognitive Anstrengung. Deswegen ist es leichter hinter einem Pacemaker zu laufen. Ultratrails sind über lange Strecken hinweg oft einsam – gerade zum Schluss des Rennens. Deswegen muss zumindest der Kopf beim Körper bleiben.
3: Die Strategie der kleinen Schritte. Ich kann mich noch gut an mein erstes 100 KM-Rennen erinnern. In der Vorbereitung bin ich ein paar Mal um den Starnberger See gelaufen. Exakt 50 KM. Ich konnte mir nicht vorstellen, noch einen einzigen Meter zu laufen. Und das ist völlig normal. Erstens war ich programmiert auf 50, nicht 51 Kilometer. Zweitens ist 2×50 keine gute Portionierung. Aber drittens. Auch wenn ich dachte, ich könnte nicht mehr weiter. Ein Schritt wäre immer noch gegangen.
Was war falsch an meiner Sichtweise? Wenn ich 100 KM laufen will, muss ich mich auch auf 100 programmieren. Also nichts schönreden! 100 sind 100, kein Meter weniger. Die Streckenaufteilung war zu groß. Nicht 2×50, sondern 20×5 oder 100×1. Je kleiner die Teilstrecke, desto größer die Gewissheit, diese auch zu schaffen. Als ich im Rennen dann 50 KM unterwegs war, war mein Ziel die nächste Verpflegungsstation. Das waren 10 KM, also ein lockerer Morgenlauf. Je länger das Rennen dauerte, desto härter wurde es. Und die Abschnitte wurden immer kleiner. Nach 95 KM dann der steile Aufstieg des Kapuzinerbergs. Krämpfe bei jedem Schritt. Aber eine Stufe ging immer noch. Und nur darauf richtete sich mein Fokus. War die geschafft, kam die nächste dran. Und dann war ich auch schon oben und kurz darauf im Ziel. Der erste 100er. Wenn mich dort auf dem Salzburger Mozartplatz jemand gefragt hätte, ob ich den Lauf auch zweimal geschafft hätte. Niemals. Aber das war auch nicht geplant. Und die Planung für meinen 200er war eine andere – mit der gleichen Strategie.
4: Jeder läuft sein eigenes Rennen. Ich gebe zu, an diesem Punkt muss ich noch arbeiten. Manchmal gelingt‘s mir, manchmal nicht. Gelingt es, dann ist alles gut. Aber Gefahren lauern überall. Dies beginnt mit dem eigenen Plan. Welche Zeit will ich laufen? Zeit, nicht Platzierung! Beim Swiss Irontrail über 133 KM im letzten Jahr gab es im Vorfeld ein Gewinnspiel. Wer schafft es, seine Zielzeit möglichst genau vorherzusagen. Ich kalkulierte zusammen mit meinem Mann (er liebt Statistiken!) Streckenlänge, Höhenmeter und vor allem Wegbeschaffenheit. Am Ende gewann ich tatsächlich das ausgelobte Paar Laufschuhe. Meine Abweichung betrug unter 10%. Bei einer Zeit von 21:40! Ich lief auf den dritten Platz und erzielte meine bislang beste ITRA- Punktzahl. Es war ein Rennen am Limit – nicht drüber, nicht drunter. Genau richtig. Hätte ich versucht, das Rennen einer der anderen Läufer zu laufen, wäre ich gescheitert. Das bedeutet: Nicht vergleichen! Nicht mit anderen Läufern, nicht mit Vorjahreszeiten, nicht mit unrealistischen Wunschzeiten. Der einzig erlaubte Abgleich findet mit meinem ambitioniert, oft sehr ambitioniert, aber realistisch aufgestellten Plan statt. Die Fokussierung auf mich selbst bedeutet nicht, dass ich mich nicht dafür interessiere, wie ich im Rennen liege. Im Gegenteil. Es ist enorm hilfreich, wenn Streckenposten mir zurufen „2. Frau. Nur 10min Rückstand“. Trotzdem bleibt es nur eine Information über etwas, das ich nicht beeinflussen kann. Wie das Wetter oder die Wegbeschaffenheit. Ich muss die Info mit meinem Plan abgleichen. Und mit dem momentanen Befinden. Da sind wir wieder bei den Überraschungen. Wann kann ich meine Stärke ausspielen – zum Beispiel moderat ansteigend. Dann ist der Zeitpunkt zum Aufholen. Vielleicht ist das Risiko aber auch zu groß. Schließlich ist das primäre Ziel eines Ultras immer erst Ankommen.
5: Krisen in den Griff bekommen. Ich fange mit dem Besten an. Jede Krise geht vorüber. Im Ultratrail-Rennen wie im Leben. Es ist manchmal unglaublich, wie man nach Phasen totaler Erschöpfung wieder ins Rennen zurückfindet. Auch hier helfen Etappen. Bergauf – bergab, Singletrail – Forststraße, jede Phase beansprucht andere Teile unseres Körpers. Währenddessen sich der Rest unseres Organismus wieder etwas erholen kann.
Verpflegung wirkt Wunder. Ich nehme im Training meist nur Wasser zu mir. Konsumiere ich im Rennen dann ein Gel, spüre ich, wie die Energie meinen Körper durchströmt. Ich laufe wieder wie vom Start weg.
Sonnenstrahlen bewirken ebenfalls Wunder. Beim Irontrail T201 kam ich – gestützt auf meine Stöcke – quasi auf allen Vieren nach 30 Stunden zum VP in der Schule von Savognin. Ich wechselte Schuhe und Kleidung, verpflegte mich etwas und öffnete die Tür. 30 Stunden Dunkelheit, Starkregen, Wind, Nebel und Schnee waren auf einmal Vergangenheit. Die Sonne des angebrochenen Vormittags verzauberte die raue Bergwelt in schon fast kitschige Idylle. Der Flow war wieder da. Ich lief runter nach Tiefencastel, rauf nach Lenzerheide. Ich spürte die Sonne und eine leichte Brise in meinen Haaren. Das Rennen hatte wieder neu begonnen. An diesen Moment erinnere ich mich oft. Hieraus ziehe ich die Gewissheit, dass jede Phase der Erschöpfung wieder vorbei geht.
Um eine Krise in den Griff zu bekommen, muss ich sie erstmal verstehen. Krisen kommen in jedem Rennen. Sie sind vorhersehbar. Es ist nicht unbedingt klar, wann sie kommen. Aber, dass sie kommen. Ich muss sie zulassen, mit ihnen fertig werden. Ich denke mir, es ist ganz normal. Ich habe mich schon gewundert, wo sie bleiben. Krisen versuchen uns umzuwerfen. Sie suggerieren uns, dass nichts mehr geht. Genau das höre ich oft im Rennen. „Nichts geht mehr!“ „Rien ne va plus“ – das mag beim Roulette gelten, nicht beim Ultratrail. Ich frage mich, was nicht mehr geht. Ist es einfach nur generelle Erschöpfung? Die ist unangenehm, aber auszuhalten. Und geht vorüber. Vielleicht muss ich das Tempo vorübergehend reduzieren. Vielleicht muss ich eine kurze Pause machen. Aber dann geht’s weiter. Sind es Schmerzen, die keinen langfristigen Schaden anrichten. Blasen an den Füßen zum Beispiel. Auch das kann man aushalten. Oder laufe ich Gefahr, meine Gesundheit zu ruinieren? Das ist dann die Ausnahme, bei der man aussteigen darf, aussteigen muss. Auch ich habe 3 DNFs zu verzeichnen. Einmal viel zu spät im Marathon-Rennen. Eine Lungenentzündung war die Folge. Einmal sehr früh im Skilanglauf bei Temperaturen unter -20 °C. Das hat meine Zehen vor Erfrierungen gerettet. Und vor kurzem beim U.TLW ganz unspektakulär, aber genau richtig. Mein Knöchel hat es mir gedankt. Aber noch nie hatte ich ein DNF, weil nichts mehr ging. Denn dann wäre es zukünftig eine Option. Und ich finde es viel einfacher, einen Ultra zu laufen, wenn finishen die einzige Option ist.