Montreux Trail Festival: Vereinte Kontraste

Montreux Trail Festival 2021 © xc-run.de

Was bitte hat Freddie Mercury mit Trailrunning zu tun? XC-RUN.de Athlet Michael Förster erklärt es euch in seinem musikalischen Event Report zum Montreux Trail Festival:

Montreux Trail Festival: Vereinte Kontraste

Freddie Mercury mit gesenktem Kopf und erhobener Faust. Seine zur Meme avancierte Rage Pose ziert mein Eventshirt. Es ist schon später Freitagabend, als ich dieses zusammen mit meiner Bib im Startareal abhole. In Bex im Rhônetal. Ich fühle mich willkommen. Kein steriler Wettkampf. Das ist Festivalatmosphäre. Freddies Rock’n’Roll Spirit durchdringt dieses Event. Ich überlege: Welcher Queen-Song passt am besten?

„Now I’m here“

Immer bin ich an Montreux vorbeigefahren. Jedesmal beeindruckt von der Symbiose aus lieblicher Promenade vor der unendlichen Weite des Genfer Sees und den mächtigen Bergen im Hintergrund. Heute bin gekommen, um hier zu laufen. Mit meinen Laufschritten diese Kontraste zu vereinen. Jetzt bin ich hier.

„Under Pressure“

Die Nacht war sehr kurz. 4 Uhr morgens. Müde und zugleich aufgeregt stehe ich an der Startlinie. Es ist mein erster 100er dieses Jahr. Und dann gleich mit 8.000 Höhenmetern. Es ist mein fünftes Rennen innerhalb von fünf Wochen. Die Form wird kontinuierlich besser. Die Beine aber auch immer schwerer. Es ist eine Gratwanderung. Verletzungsbedingt bin ich viel zu spät in die Saison gestartet. Mein Saisonhöhepunkt – der TDS im Rahmen des UTMB – nimmt darauf keine Rücksicht. Also muss ich jetzt „all in“ gehen. Im  Trainingsvolumen wie auch der Wettkampfhärte. Und gleichzeitig auf meinen Körper aufpassen. Viele Gedanken für die frühe Uhrzeit. Ein bisschen stehe ich unter Druck. Egal. Heute wird geliefert.

„Love of my live“

Der Start dokumentiert den Festivalcharakter. Wir marschieren im neutralisierten Modus einige hundert Meter bis zum tatsächlichen Startbogen. Das kontrolliere Tempo gibt ein Dudelsackspieler vor. Pyrotechnische Beleuchtung setzt ihn ins passende Bühnenlicht. Die feierliche Zeremonie bringt meine Gedanken von den Ergebniserwartungen wieder zurück zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Laufen. Durch die Nacht. In den Tag hinein. Über die Berge. Und wieder runter. Solange meine Beine wollen. Und heute wahrscheinlich auch noch etwas länger. Der Startbogen ist durchschritten. Die Muskeln sind einigermaßen warm. Jetzt wird Tempo gemacht. Jetzt wird gelaufen. Ich spüre sie. Die Liebe meines Lebens.

„Hammer to fall“

MXTREME – Bereits der erste Anstieg wird der Rennbezeichnung gerecht. Über 2.000 Meter geht es hinauf. Eine Lichterkette aus Stirnlampen schlängelt sich die Serpentinen im Wald hinauf. Ich halte mich zurück. Es ist schon ziemlich warm. Der Schweiß fliest. Als ich oben ankomme, ist es bereits hell. So kann ich die umgebende Bergwelt bewundern. Gleich fordert ein technischer Trail meine Konzentration. An jeder Verpflegung fülle ich gierig meine Flasks auf. So durstig bin ich selten. Nach Pont-de-Nant geht es bereits in den zweiten Gegenanstieg. Nach dem Col des Essets geht es dann ins malerische Tal Solalex inmitten der Massive von Les Diablerets und Miroir de l’Agentiere. In diesem kleinen Paradies erwartet mich Michael zum ersten Mal. Leider laufe ich nur auf Platz 5 der Damenkonkurrenz durch. Es fällt mir schwer. Und das nach nur 30 Kilometern. Gleich geht es eine Skipiste hinauf. Ich kämpfe, marschiere, mache weiter. Das Rennen ist noch lang. Und dem Hammer bin ich zum Glück entkommen.

„You’re my best friend“

Über Chaux Ronde geht es zum Col de la Croix. Michael feuert mich vom Mountain Bike aus an. Einen Platz konnte ich gutmachen. Wieder bin ich kurz vor der Dehydration. Gerade rechtzeitig kommt die Verpflegung. Nach dem Roc d’Orsay geht es am malerischen Lac des Chavonnes vorbei. Am liebsten würde ich in das einladend grüne Wasser springen. Doch dafür ist heute keine Zeit. Weiter geht’s. Noch einmal rauf und dann das einzige Mal unter die 1.000 Höhenmeter-Marke nach Le Sépey. 60 Kilometer. Michael hat es wieder geschafft, rechtzeitig vor mir da zu sein. Ich freue mich so, ihn zu sehen. Mein bester Freund.

„Don’t stop me now“

Gemeinsam mit der zweiten Frau laufe ich aus der Verpflegungsstation heraus. Ich komme immer besser ins Rennen. Ein langgezogener Anstieg erwartet mich. Das liegt mir. Ich bleibe im Laufschritt. „This isn’t the finish line“, ruft mir meine Konkurrentin um Platz 2 zu. Ich antworte nicht. Freddie hätte den passenden Titel parat gehabt.

„A Kind of Magic“

Das Streckenprofil hatte ich mir am Vortag eingeprägt. Langer Aufstieg, vier kleine Gipfel, Zwischental knapp nach der Hälfte, wieder vier kleine Gipfel, langer Abstieg. Was auf dem Höhenprofil so harmlos aussah, erweist sich in der Realität als brutale Challenge. So klein waren die Gipfel dann doch nicht. Doch trotz der einsetzenden Erschöpfung und schmerzenden Oberschenkel, fühle ich mich gut. Vielleicht sogar besser als auf der ersten Hälfte. In jedem Ultra lerne ich meinen Körper besser kennen. Und doch bleibt er „a kind of magic“.

„I want to break free“

Der Streckenverlauf der zweiten Hälfte lässt mich wieder längere Stücke unbeschwert laufen. Ich genieße die Freiheit auf dem Bergkamm. Es hat merklich abgekühlt. Donner ist bereits in der Ferne zu hören. Beim Downhill vor dem letzten Anstieg kann ich endlich zum See hinunterblicken. Was für ein Ansporn! Doch schon bald ist es mit der Aussicht vorbei. Im Gegenanstieg umhüllt uns dichter Nebel. Trotz der guten Markierungen muss ich mehrere Läufer nach dem Weg fragen. Gemeinsam tasten wir uns vor. Bald ist die 100 Kilometermarke überschritten. Der Akku meiner Uhr gibt auf. Ich nicht. Die Erschöpfung soll mir nichts anhaben können. Ich will frei sein. Einfach nur weiterlaufen.

„I want it all“

Es ist wieder dunkel. Ich liebe es, aus der Nacht durch den Tag wieder in die Nacht hinein zu laufen. In die Dunkelheit. Meine Uhr ist auch dunkel. Ich kann die verbleibende Entfernung nur an den Lichtern im Tal abschätzen. Es ist der finale Downhill. Doch von Entspannung keine Spur. Irgendwann geht der Weg in Treppenstufen über. Endlose Stufen. Mit Sicherheit die längste Treppe, die ich jemals gelaufen bin. Bis hinunter nach Montreux. Es ist nach Mitternacht, als ich die Promenade erreiche. Samstagabend. Partystimmung. Die meisten sind auf dem Weg zu einem weiteren Drink. Ich auch. Endlich sehe ich den Zielbogen etwas oberhalb der Freddie Mercury-Statue. Ich wollte alles. 112 Kilometer, 8.000 Höhenmeter. 20.44 Stunden war ich unterwegs. Zweite Frau. Michael nimmt mich in der Arm. Ich bin glücklich. Fast alles habe ich bekommen. Nur zum Sieg hat es heute nicht gereicht. Viel wichtiger ist mir aber, dass mein Körper so gut durchgehalten hat. Endlich habe ich den Ultramodus wiedergefunden.

„We will rock you“

Die Nacht war kurz. Es regnet am Sonntagmorgen. Noch immer kommen vereinzelt Läufer ins Ziel. Jeder wird gefeiert. Um 11 Uhr startet schließlich die Siegerehrung. Die Stimmung erinnert an eine Backstage-Party. Diego Pazos und Cédric Agassis rocken am Mikro. Der positive Spirit erfüllt die offene Halle. Das ist die Kern-DNA des Trailrunnings. Die Freude am Sport lässt alle Zeiten und Platzierungen in den Hintergrund treten. Ich bin dankbar. Meinem Körper. Meinem unermüdlichen Supporter auf der Strecke. Und dem Veranstalter für dieses Trail Festival. Diego und Cédric: „You are the champions!“