Der Regen prasselt unaufhörlich auf die Windschutzscheibe. Noch vor kurzem saßen wir bei Sonnenschein auf der Terrasse der Bründl-Sport Rooftop-Lounge. Aufziehende Gewitter beendeten die gemächlich angedachte Dämmerungsphase dieses Sommerabends abrupt. Noch eine Stunde bis zum Start des Großglockner Ultratrails. Ich spüre in meinen Körper hinein. Eine hartnäckige Erkältung macht mir seit zwei Wochen zu schaffen. Soll ich starten? Noch bin ich unschlüssig. Ich frage Michael, was ich machen soll. „Das kannst nur du entscheiden“. Das stimmt. „Ich bin müde“, antworte ich. „Ich glaube, mein Körper ist nicht bereit“. Wenige Minuten später ist die Müdigkeit verflogen. „Ich bin bereit. Das wird ein gutes Rennen. Auf geht‘s.“ Auch wenn ich meinen Körper sehr gut kenne, manche Dinge kann ich nicht erklären. Aber zumindest darauf vertrauen. Im strömenden Regen marschieren wir zum Start. 110 Kilometer mit knapp 7.000 Höhenmetern warten auf uns.
Start im Regen
Wir starten auf dem Salzburger Platz im Herzen Kapruns. Trotz des Regens ist es immer noch warm. Schon bald ziehe ich meine Regenjacke aus. Leicht ansteigend geht es die Kapruner Ache entlang. Bald wird es steiler. Und ich bekomme Begleitung. Der Kameramann läuft mit mir und filmt mich. Ein welliger Singletrail quert einen steilen Hang. Unten schimmert geheimnisvoll der Stausee Wasserfallboden. Durch die Nacht und den Regen ist die Wasseroberfläche nur dezent schimmernd erkennbar. Eine Öffnung im Hang führt uns in eine kurze Tunnelpassage. Die Situation wird zunehmend surrealer. Ich fühle mich etwas wie der Actionheld eines Videospiels. Wege müssen gefunden werden, Hindernisse überwunden und die Schwierigkeit steigert sich mit jedem Level. Und ab und zu gibt es Energie und neue Leben. Ich bin froh, nach sechzehn Kilometern beim ersten Verpflegungspunkt wieder in die Realität einzutauchen. Hier oben auf 2.000 Metern ist es schon deutlich frischer. Ich ziehe meine Regenjacke an. Die Staumauer des Mooserboden eröffnet die zweite Etappe. Rechts unter mir funkelt der See. Von oben prasselt unaufhörlich der Regen. Und von der Bergseite bahnen sich immer stärker werdende Sturzbäche ihren Weg hinunter zum See. Wasser, wohin ich blicke. Ich konzentriere mich auf den Trail. Versuche ich anfangs noch, die Bäche von Stein zu Stein hüpfend zu queren, so bleibt mir bald nur noch die „all-in“-Strategie. Ich tropfe sowieso von Kopf bis Fuß. Nässer kann ich nicht mehr werden. Doch leider kälter.
Kampf gegen die Kälte
Auf dem Weg hinauf zum Kapruner Törl tauche ich hüfttief in das kalte Gletscherwasser ein. Der eisige Wind lässt das Wasser durch meine dünne Laufhose fast gefrieren. Auch die dünnen Handschuhe kommen an ihre Belastungsgrenze. Das Gelände ist hier oben sehr technisch. Einige Kerzen weisen uns zusätzlich zu den reflektierenden Markierungen den Weg. Wie gerne würde ich mich an der Flamme etwas aufwärmen. Stattdessen geht es auf der Gegenseite des Passes ebenso steinig und technisch hinunter. Bald schimmert wieder eine mystische Wasserfläche. Der Tauernmoossee. Ich sehne die zweite Verpflegungsstelle herbei. Doch erstmal geht es wieder hinauf. Durchweichter Boden, rutschige Steine, heute ist Kampfgeist gefragt. Endlich erreiche ich die Rudolfshütte. Ich friere merklich. Ein Sanitäter bringt mir eine Rettungsdecke und hilft mir, mich damit unter meiner Kleidung auszustaffieren. Das ist meine Rettung. Nach fünfzehn Minuten Pause bin ich wieder bereit. Nun kann mir auch der beißende Wind hinauf zum Kalser Tauern nichts anhaben. Nach diesem zweiten Pass geht es anfangs steil, dann lange über verblocktes Gelände vorbei am türkis schimmernden Dorfersee und schließlich auf einer moderat abfallenden Forststraße durchs Dorftal hinunter nach Kals Großglockner. Fünfzig Kilometer und knapp die Hälfte des Rennens sind geschafft.
Der Rückweg beginnt
Das Licht des frühen Morgens belebt. Ich fühle mich gut und freue mich auf den steilen Anstieg. Weiter oben wird es schon wieder kühler. Doch kein Vergleich zu letzter Nacht. Ein kurzer Downhill hinunter zum Lucknerhaus, dann weiter hinauf zur Glorerhütte. Ich muss an Michael denken. Wie wird es ihm in der kalten Nacht ergangen sein. Schade, dass er mich heute nicht betreut. Aber er wollte in Vorbereitung auf ein großes Abenteuer im Herbst heute auch seine Grenzen ausloten. Der Streckenposten gibt mir Auskunft. Michael ist in Kals. Nun weiß ich, ihm geht es gut. Wir queren nun ein zerklüftetes Hochplateau. Es geht vorbei an der Salmhütte. Nun einen Steilhang querend und dann hinunter zur Mauer des Stausees Margaritze. Etwas oberhalb thront das Glocknerhaus an der Gletscherstraße. Für einen kurzen Moment scheint die Sonne. Ich genieße die wärmenden Strahlen. Laut Streckenprofil wartet nun der letzte hohe Pass auf mich. Die untere Pfandlscharte. Der Weg zieht sich. Immer wieder denke ich, nun habe ich es gleich. Und dann taucht doch wieder eine weitere Anhöhe auf. Einen Gletscherbach querend und einen weiteren Bergsee bestaunend erreiche ich schließlich den Pass. Der folgende Downhill fordert noch einmal alles von meinen beanspruchten Muskeln. Im Tal gelingt es mir, wieder in den Laufschritt zu wechseln. Das ist wichtig. Hier kann ich viel Zeit gutmachen. Oder verlieren. Ich habe keinen Überblick über das Teilnehmerfeld. Das ist mir auch gar nicht mehr so wichtig. Das ist wieder eines dieser Rennen, die man gegen sich selbst läuft. Oder vielmehr mit sich selbst. Denn nur so hat man eine Chance zu finishen. Ich bin meinem Körper so dankbar, wie er nun schon seit vielen Stunden mitmacht. Vor einer Woche musste ich die Mont Blanc-Umrundung kurz vor dem Ziel abbrechen. Die ganze Woche über konnte ich aufgrund der Erkältung mich kaum bewegen. Doch pünktlich zum Rennen klappt wieder alles. Auf dem Weg zum letzten Talort Fusch bekomme ich wieder Begleitung vom Kameramann. Einerseits bin ich froh, nicht alleine laufen zu müssen, andererseits bin so müde. Der Weg erinnert teilweise an Schlammschlachten eines Obstacle Course Runs. Egal. Einfach rein. Und dann durch den nächsten Bach zum Sauberwaschen. In Fusch nehme ich mir nochmal ein paar Minuten Zeit.
Final Climb
Der letzte Anstieg erwartet mich. Auf dem Profil sieht es nach einem kleinen Hügel aus. Und im Schatten des Großglockners ist er das wahrscheinlich auch. Doch nach fast hundert Kilometern sind siebenhundert Höhenmeter auch nochmal ganz schön hart. Noch ein Gegenanstieg, dann eine moderat abfallende Forststraße hinunter und rechts in den Wald. Heute wird einem nichts geschenkt. Steil geht es im Matsch bergab. Irgendwann erreiche ich Kaprun. Es wird immer lauter. Schon einen Kilometer vor dem Ziel höre ich den Jubel. Die Stimmung ist unglaublich. Alle Schmerzen sind vergessen. Die Kälte der Nacht, die brennenden Oberschenkel, die glühenden Fußsohlen. Die Anfeuerungsrufe tragen mich ins Ziel. Ich bin so glücklich. Leider erwartet mich heute Michael nicht im Ziel. Doch nur wenige Minuten später gratuliert er mir telefonisch. Irgendwie war er auch heute bei mir. Er kämpft sich noch über den letzten Berg und kommt im strömenden Regen ins Ziel. Gemeinsam bestaunen wir meinen Pokal. Eine Nachbildung des Großglockner Gipfelkreuzes. Gedanklich habe ich dafür schon einen Ehrenplatz in unserer Wohnung reserviert. Die Erinnerungen an dieses Abenteuer werden dadurch am Leben gehalten. Und auch die Erkenntnis, auf sich selbst zu hören, an sich zu glauben und immer weiterzumachen. So sehr ich die rauhe Bergwelt liebe, so wohl fühle ich mich jetzt aber in den weichen Decken im Hotel Barbarahof nur ein paar Meter vom Ziel entfernt. Viel weiter hätte ich den bestimmt sieben Kilo schweren Pokal auch nicht tragen können. Zusammen mit den Inhabern des Hotels wartete ich im Ziel auf Michael. Selten habe ich so eine Gastfreundschaft erlebt.