Ode an das Laufen

Laufen in Zeiten der Corona-Krise © xc-run.de

Warum zieht es im Moment so viele Menschen in die Wälder? Wieso bekomme ich immer mehr den Eindruck einer völlig polarisierten Gesellschaft? Auf der einen Seite freundliche, glückliche Gesichter beim Wandern, Laufen oder Radfahren in der Natur, auf der anderen Seite eine Parallelwelt aus ängstlichen, maskenverdeckten, fast panischen Menschen im örtlichen Supermarkt? Das hier soll kein Text zur Lage der Nation werden. Auch kein Jammern über unsere aussichtslose Lage. Erst recht keine Klärung der Schuldfrage. Eine Ode an das Laufen möchte ich schreiben – einen Artikel über meine große Leidenschaft.

Im Gepäck: Ein Rucksack voller Zweifel

Vor kurzem erschien ein Artikel in der Zeit in dem es sinngemäß hieß: „Hätte es das Laufen nicht schon vorher gegeben man hätte es für die Corona-Krise erfinden müssen“. Warum zieht es die Menschen gerade in Krisenzeiten raus zur Bewegung in die Natur? Ich glaube die Antwort für mich zu wissen, möchte es aber auf einer gigantischen Runde durch den Bayerischen Wald für mich herausfinden. Etwa 80 Kilometer und unzählige Gipfel sollen es heute werden. Über den Hohen Bogen und den Großen Osser, zum Großen Arber und auf dem Goldsteig zurück zur Haustür in Bad Kötzting. „Door-to-Trail“ nennt man es neudeutsch – „Groaße Reim“ bei uns. Im Gepäck ein großer Rucksack voller Zweifel, Zukunftsängste und ungeklärter Fragen. Corona hat auch im Hause Mingo seine Spuren hinterlassen.

Negative Gedanken? Laufe schneller!

Um 6:00 Uhr morgens, nach gut einer Stunde und zehn Kilometern stehe ich am verlassenen Berggasthaus Schönblick und kann einen Blick auf mein „Tagwerk“ werfen. Erst hier wird mir bewusst, welch gewaltige Strecke vor mir liegt. Der Große Arber, weit entfernt im dichten Nebel. Ich laufe hinab zur Höllhöhe am Sporthotel KINEMA vorbei. Fitnesscenter, Physiotherapie, Gasthaus, Hotel. Alles Dienstleistungen, alles geschlossen. Gespenstisch diese Stille. Hier hätte ich vor drei Wochen mit zwei Freunden und einer Horde begeisterter Läufer ein Trailcamp abhalten sollen. Abgesagt! „Auf dem Berg regiert die Freiheit – im Tal regiert der Neid!“ Neidisch bin ich ihnen wahrlich nicht, den Selbstständigen, Kleinunternehmern und Mittelständlern, die die Krise so hart erwischt, ja regelrecht überrollt hat. Es macht mich traurig und nachdenklich. Welche Auswirkungen hat Corona auf unseren Lebensalltag? Wie viele Existenzen kann diese Krise zerstören? Das gute am Laufen: Man kann negative Gedanken steuern. Ab einem bestimmten Pulsbereich zählt nur noch Atmung, Bewegung und Muskelkraft, der Rest tritt in den Hintergrund. Plagen dich negative Gedanken? Laufe schneller!

Massenpsychose? Laufe noch schneller!

Wie wahr: Die Inschrift einer Bank beim TAR 2013 © Sportograf GmbH & Co. KG | Dennewartstr. 25/27 | D-52068 Aachen

Es geht voran über Kollmstein, Absetz und hinauf über das „Rote Kreuz“ zum „Zwiesler Eck“. Ab hier schlängelt sich einer der schönsten und einsamsten Wanderwege des Bayerischen Waldes die Deutsch-Tschechische Grenze entlang. Als Kontrastprogramm zum Laufgenuss, der Podcast in meinem Ohr: „Die Psychologie der Masse.“ Diese Theorie besagt, dass sich Menschen in Krisenzeiten und Paniksituationen nach einem starken Führer sehnen und diesem unreflektiert folgen. Das bedeutet, erzeuge eine Massenpsychose und schon gelingt es ungeliebte Forderungen durchsetzen. Ohne es zu wollen kreisen meine Gedanken schon wieder um das Virus und seine möglichen Folgen für Europa unser Land und seine Bevölkerung. Konrad Zuse soll einmal gesagt haben „Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß, wie die Gefahr, dass der Mensch wird wie der Computer.“ Abseits der Menschenmassen, fernab jeder Ansteckungsgefahr, auf diesem wunderschönen Höhenzug im bayerisch-böhmischen Wald, schaudert mir. Die Angst als Roboter in einem totalitären System zu enden verdrängt sogar die Angst vor dem Virus. Ich schalte die GPS-Ortung meines Handys aus – und laufe schneller!

Heimweh? Ab nach Hause!

Weit vor Corona-Zeiten: Trailrunnerinnen 2014 am Großen Osser © Marco Felgenhauer / woidlife photography

Nach drei Stunden erreiche ich den Gipfel des Großen Ossers. Hier war ich als Kind oft mit meinen Eltern und kann mich noch an die tschechischen Soldaten erinnern, die zum Schutz der Grenze dort oben Stellung bezogen hatten. Eiserner Vorhang! Als Kind hatte ich das nicht verstanden, fühlte mich unwohl und bedroht. Auch heute dürfte ich nicht auf die tschechische Seite. Ich denke an meinen 4-jährigen Sohn, der am Gartenzaun mit Tränen in den Augen und vor Frust bebender Stimme aus Leibeskräften fleht: „Bitte Papa – ich will zur Lilo, nur eine Minute. Papa bitte!“ Freundin Lilo wohnt hundert Meter Luftlinie von uns entfernt. Gut 30 Jahre später ist der Eiserne Vorhang in unseren Garten vorgerückt. Ich stehe allein am Gipfel. Hier oben muss ich in keine Rollen schlüpfen. Ich bin nicht „starker Papa“, „kluger Lehrer“ oder „erfolgreicher Sportler“. Ich bin ein kleiner Mensch inmitten großer Natur – und unendlich traurig. Ist alles was wir uns über Jahrzehnte aufgebaut haben dahin wegen dieses Virus? Welche Zukunft erwartet meine Kinder? Gehen sie als von starker Rezession und Angst geplagte Generation „Social Distancing“ in die Geschichtsbücher ein? Oder wird es nach einem kurzen Schock doch wieder wie vorher? Oder sogar besser?

Laufen weil ich es liebe

Langsam, ganz langsam beginne ich zu traben und finde wieder meinen Rhythmus. Erst einige hundert Meter später bemerke ich, dass ich in gewohnter Manier den Osser in Richtung Lam hinunterlaufe, anstatt dem Grenzweg weiter zum Zwercheck zu folgen. Herz und Beine wollten wohl heim zu den Liebsten – und mein Kopf will es auch. Ich muss grinsen. „Ein andermal“ denke ich mir und freue mich zum verspäteten Frühstück zu Hause zu sein. Ein Vorteil der wettkampffreien Zeit: Es gilt keine Ziellinie zu erreichen, keine Trainingspläne zu erfüllen. Einfach nur Laufen und aufhören, wenn es keinen Spaß mehr macht. Was ich herausfinden wollte wird mir in diesen Zeiten bewusster als je zuvor: Bewegung in der Natur gehört neben Familie und Gesundheit zu meinen absoluten Grundbedürfnissen. Weit weg von Wettkampftrubel, Zielsetzungen oder Selbstoptimierungszwängen. Einfach Laufen – weil ich es liebe.