Das ewige Eis und die Trailrunner: Michael beim Stubai Ultra Trail

Es ist kühl geworden auf der Skipiste. Die Höhenanzeige meiner Suunto meldet 3.100 m. Stockeinsatz und Schwung. Nicht hinab, auch nicht auf Ski. Es geht bergauf, direttissima, in Laufschuhen. In kurzen Hosen und T-Shirt. Gerade noch auf der Plane, die den Gletscher vor der Sonne schützen soll, nun in richtigem Schnee. Ich schlage mit meinen Füßen kleine Treppenstufen in den weißen Untergrund. So vermeide ich, die mühsam eroberten Zentimeter durch Zurückrutschen wieder einzubüßen. Noch wenige Meter hinauf. Der Zielbogen ist zum Greifen nahe. Es wird diesmal kein eleganter Sprint. Mehr ein Stapfen im matschigen Schnee. Ein Torkeln in der dünnen Luft. Die Erlösung von den Strapazen des Final Climbs. I did it! Stubai Ultratrail – urban2glacier. Die Erlebnisse der letzten 11:32 Stunden sind schwer zu beschreiben. Zu surreal. Zu unique.

Wettkämpfe habe ich schon viele bestritten. Vieles war ihnen gemeinsam. Die Vorbereitung: Ausruhen, Carboloading, früh ins Bett. Der Startschuss am frühen Morgen. Und dann einige Stunden später wieder am gleichen Ort ankommen.

Das war diesmal alles etwas anders. Beim Stubai Ultratrail.

Start in Innsbruck.

Kurz nach Mitternacht reihe ich mich in die Startbox ein. Im Herzen Innsbrucks, auf dem Platz vor dem Landestheater. Eine schwülwarme Sommernacht. Die Soundanlage gibt alles, der Moderator auch. Die 218 Starter sind hellwach. Auf das feierwütige Publikum des Innsbrucker Nachtlebens wirkt das alles wie der Beginn einer legendären Party. Party – diese Beschreibung beschreibt dieses einzigartige Race etwas besser. Trail-Party, Suffer-Fest? Wir werden sehen.

Countdown. Um 1:00 Uhr der Start. Der erste Kilometer führt uns durch die Fußgängerzone. Kurz darauf wird es dunkel. Die Stirnlampen werfen ihr gleisendes Licht. Wir tauchen ein in die Silser Schlucht. Es ist tropisch heiß. Der Schweiß fließt in Strömen. Das Tempo ist hoch. Hilft nichts, überholen geht hier nicht. Also weiter in der anfangs gewählten Pace. Nach 10 KM geht’s hinauf zur Stephansbrücke. Meine Frau Basilia feuert mich an, begleitet mich ein paar Schritte. Trinken, dann wieder in die Dunkelheit. Der Mond leuchtet in voller Statur über uns. Die ersten 10 Kilometer wiederholen sich. Leicht ansteigende Singletrails führen uns durch die Nacht. Wir erreichen Telfes. Der Ort schläft. Nur Verpflegungsposten und einige Betreuer sind auf den Beinen. 17 Kilometer sind geschafft. Aber gerade einmal 250 Meter haben wir an Höhe gewonnen. Das sollte sich nun ändern. 11 Kilometer erwarteten uns mit einer durchschnittlichen Steigung deutlich über 10 Prozent. Die Schwüle geht ansatzlos über in kühles Bergklima. Das Läuferfeld löst sich auf. Ich bin allein. Mich fröstelt. Umziehen oder Tempo machen. Ich entscheide mich fürs Tempo. Doppelstock und schnelles Gehen. Fast wie im Winter, nur ohne Ski. Bald erreiche ich die Schlickeralm. Ich fülle meine Trinkflasche auf und marschiere weiter. Die Konturen der schroffen Felswände zeichnen sich zunehmend schärfer gegen die Nachtkullisse ab. Während der Mond noch majestätisch über den Berggipfeln der Kalkkögel strahlt, zeichnet sich hinter uns bereits der Sonnenaufgang ab. Dieser vollzieht sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Wettkampftempo. Am Grat angekommen ist es bereits taghell. Philipp Reiter hat sich den besten Platz zum Fotografieren ausgesucht. Seine Drohne fliegt über uns. Aber auch für uns wird es kurz luftig. Ein schmaler Singletrail unterhalb des Grats. Dann geht es schon bergab Richtung Neustift im Stubaital. An der Starkenburger Hütte gibt es wieder Verpflegung. Ich bleibe beim Trinken und laufe gleich weiter. Knieprobleme zwingen mich, den Downhill vorsichtig anzugehen. Es gefällt mir gar nicht, überholt zu werden. Aber ich tröste mich. Es kommen noch genug Anstiege, um wieder aufzuholen.

Im Stubaital.

Serpentine um Serpentine schlängelt sich der Trail abwärts. Neustift liegt tief unten im Stubaital. Mit jeder Kehre wird es etwas größer und plötzlich bin ich mittendrin. Es ist 6:30. Ideale Zeit für ein Frühstück. Ich spüre nun auch die Müdigkeit etwas. Einige Dorfbewohner schauen aus ihren Häusern, feuern mich an. Die Verpflegung nutze ich wieder nur zum Getränke auffüllen. Basilia erinnert mich an mein Spezial-Gel. Geschmack Mocca. Mein Frühstück. Nach fast 6 Stunden strömen zum ersten Mal konzentrierte Kohlenhydrate durch meinen Körper. Ich bin hellwach. Die Party kann weitergehen – Afterhour!

Der Weg schlängelt sich nun etwas oberhalb des Tals durch den Wald. Auf den Lichtungen erkenne ich in weiter Ferne etwas Weißes. Das muss der Gletscher sein. Unvorstellbar, dass es da noch hingeht. Die Hälfte der Strecke habe ich zumindest schon geschafft.

Das Laufen strengt nun deutlich mehr an. Es wäre so verlockend, nun zu wandern. Aber ich zwinge mich, im Laufschritt zu bleiben. Nur die steileren Abschnitte marschiere ich. Ich brauche Energie, aber ich verspüre keinen Hunger. Im Gegenteil. Ich muss mich zwingen, etwas Melone, Weißbrot und Gemüsebrühe zu mir zu nehmen.

Das Tal nimmt kein Ende. Das Panorama ist grandios. Wasserfälle stürzen an den Seiten in die Tiefe. Mit der gewonnenen Höhe, der Verengung des Tals gewinnen auch die Eindrücke an Dramaturgie. Ein imposantes Crescendo an diesem frühen Morgen, das nach einer Straßenquerung auf den in der rechten Talhälfte verlaufenden Wilde Wasserweg in einer Mixtur aus Stein, Gischt und lieblichem Grün kumuliert. Kurz darauf erreichen wir die Talstation der Stubaier Gletscherbahn.

Steil bergauf.

Hier versammeln sich später am Vormittag die Starter des Gletschertrails, einem klassischen Berglauf. Wir nehmen dieselbe Strecke. 1400 Höhenmeter auf 8 Kilometer. So hart es klingt, ich bin froh über die Abwechslung. Schnelles Bergaufsteigen mit Stockeinsatz fordert andere Muskeln als Laufen. Der Anstrengungsgrad bleibt identisch. Die Sonne steht gleich über uns. Der Schweiß fließt in Strömen. Basilia hat ihre Ankündigung wahr gemacht und begleitet mich auf dem finalen Climb. Sie wäre gerne mitgelaufen. Musste diesmal verletzungsbedingt pausieren. „Bergauf passt“, rief sie mir zu. Ihre Entscheidung bestätigte, dass Laufen hart ist, Ultralaufen oft megahart, aber Nicht-Laufen das Härteste.

Basilia erinnerte mich immer wieder ans Essen. 2 Kohlenhydrat-Riegel hatte ich noch. Diese kaute ich nun Stück für Stück mit viel Flüssigkeit. Und es half. Mein Tempo blieb konstant. Schier endlos zog sich der Weg zur Dresdner Hütte hin, dann weiter zur letzten Verpflegung am Eisgrat, der Bergstation am Stubaier Gletscher. Die Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Die raue Berglandschaft ist jetzt schneebedeckt. Ein bisschen wie Après-Ski. Aber für’s Ausruhen ist es noch zu früh.

Finale im ewigen Eis.

Der Skihang steht uns noch bevor. Nicht mehr Meter für Meter, eher Zentimeter für Zentimeter kämpfe ich mich nach oben. Das Ziel in Sichtweite weckt diesmal keine versteckten Kräfte. Zu langsam kommt es näher. Selbst unmittelbar davor, muss noch eine Rampe überwunden werden. Doch endlich – nach 11:32 Stunden – überquere ich die Ziellinie. Ich bin überwältigt. Nicht einmal 12 Stunden ist es her, dass ich in der Innsbrucker City loslief. Von der Stadt ins ewige Eis. Nun stehe ich an der Stubaier Jochdohle. Dem Gletscherrestaurant auf 3.150 Meter Höhe. Diese Location für die Afterhour-Party brauche ich nicht mehr. Meine Party fand auf der Strecke statt. Der Stubai Ultratrail war an Abwechslung nicht zu überbieten. Dies ließ mich alle Anstrengung vergessen. Die Schmerzen kaum spüren. Jetzt sind sie da. Die Müdigkeit auch. Macht nichts. Der Stolz bleibt.