UTMB 2021: Einmal Lebenstraum zum Mitnehmen, bitte! - xc-run.de Trailrunning

UTMB 2021: Einmal Lebenstraum zum Mitnehmen, bitte!

UTMB 2021: Markus Mingo beim CCC im Rahmen des Ultra Trail du Mont Blanc © Tobias Achatz

Sie existiert in meinem Kopf, diese mehr oder weniger geheime, sogenannte „bucket list“ – Dinge, die ich in meinem Leben unbedingt einmal machen möchte. Aus sportlicher Sicht steht hier der Ultra Trail du Mont Blanc ganz oben. Der UTMB in Chamonix ist das bedeutendste Trailrunning Event der Welt, und zieht jährlich tausende ambitionierte Läufer an, um sich auf den Strecken Rund um den Mont Blanc zu messen. Die Startplätze sind heiß begehrt und nach einem komplizierten Qualifikationsverfahren landet man in der Lotterie, um mit viel Glück eines der raren Tickets zu ergattern.

Eine Ehre am Start stehen zu dürfen

Für mich ist es eine Ehre als geladener Elitestarter inmitten dieses Weltklasse Line-Ups zu stehen ich sehe das Event zwar als Wettkampf aber viel mehr noch als Belohnung für jahrelanges, hartes Training und Leistungssport auf hohem nationalem Niveau. Viele Premieren treffen hier zusammen: Mein erstes Mal Chamonix, mein erstes Mal beim UTMB und mein erster Lauf über die magische Distanz von 100 Kilometern. Die Mission ist deshalb klar: Langsam starten, das Event und die Atmosphäre genießen und unter allen Umständen ins Ziel zu kommen. Hier eine Topplatzierung zu erzielen liegt, realistisch betrachtet, jenseits meines Leistungsvermögens.

UTMB als Roadtrip

?Urlaube zu planen ist im Jahr 2021 schwierig, mehrere Grenzen überschreitende Familienurlaube mit Kindern, nahezu unmöglich. Deshalb ist auch der Reiseplan einfach: Schnell hin und schnell wieder heim. Martin Mühlbauer begleitet mich als Support, unser Basislager – der VW Bus. In Chamonix herrscht Ausnahmezustand. Zähe Waden, klar erkennbare Läufer und Tausende Sportbegeisterte, die nur eines im Sinn haben: Den Ultra Trail du Mont Blanc. Die Regeln? Streng! Umfangreiche, eindeutig definierte Pflichtausrüstung, Betreuung ist nur an den Verpflegungsstellen bei Kilometer 55, 70 und 80 erlaubt und eine omnipräsente Einhaltung der 3-G-Regeln ist geboten.

Coymayeur – 30 Minuten vor dem Start

Muss man sich vor einem Rennen über 100 Kilometer warm laufen? Egal, es hilft gegen die Nervosität! Nationalhymnen der zu durchlaufenden Länder Schweiz, Frankreich und Italien werden gespielt und zu den Tönen von Vangelis` „Conquest of paradise“ geht es auf die Strecke. Schon stehe ich am Fuße des ersten, 1600 Höhenmeter langen Anstiegs zum Tête de la Tronche (2584m). „Ruhig bleiben“, „nicht mitreißen lassen“ lautet mein Credo. Die Strecke: Ein Traum aus ellbogenbreiten Singletrails mit unfassbaren Ausblicken auf das allgegenwärtige Mont Blanc Massiv. Frenetisch feiernde Zuschauer an jeder Ecke und dazu strahlender Sonnenschein. Die ersten Abschnitte verlaufen wie im Traum und so vergehen fast 30 Kilometer, bis ich das erste Mal auf die Uhr sehe und mich frage, wie lange ich wohl noch nach Champex-Lac brauchen werde, wo Martin bei Kilometer 55 mit neuen Schuhen, frischen Socken, Verpflegung und vielen aufmunternden Worten auf mich wartet. Hier soll das Rennen nach Expertenaussagen „erst richtig beginnen“. Kurz vorher geht es durch ein heißes, schwer laufbares Flussbett. Ich spüre die Müdigkeit – ein Spaziergang wird das heute nicht und ich bin froh als ich an der Verpflegungsstation ankomme.

UTMB 2021: Markus Mingo beim CCC im Rahmen des Ultra Trail du Mont Blanc © Tobias Achatz

Von Höhen und Tiefen

Die Müdigkeit setzt sich auch anschließend fort und nach einer Unachtsamkeit bei Kilometer 60 lande ich unsanft auf der Nase. Das „Knacken“ verheißt nichts Gutes. Wütend über meine eigene Tollpatschigkeit werfe ich die zerbrochenen Stöcke auf den Weg und laufe – nein gehe – frustriert weiter. Während ich mir noch die Carbonsplitter aus der schmerzenden Hand ziehe, läuft eine Gruppe auf mich auf und belehrt mich, dass ich hier gerade gegen Regeln verstoße. Recht haben sie. Reumütig trotte ich zurück, glaube meine kaputten Stöcke auf und trage sie von nun an im Rucksack mit. Das Ganze kostet Zeit und vor allem mental unglaublich Kraft. Die drei steilsten Anstiege liegen noch vor mir und plötzlich fühlen sich Körper und Beine unendlich ausgelaugt an. Ich spiele mit dem Gedanken in Trient auszusteigen…

UTMB 2021: Markus Mingo beim CCC im Rahmen des Ultra Trail du Mont Blanc © Tobias Achatz

Nur geträumt

Ein paar Kilometer später sieht die Welt wieder anders aus. Der Downhill macht unglaublich Spaß, die Beine laufen schier von selbst und ich hole auf. Hier beginnt meine stärkste Phase des Rennens und dieser „Flow“ hält an bis nach der letzten Verpflegungsstation in Vallorcine. Der letzte Anstieg – das Ziel ist greifbar. Beim Sonnenuntergang am La Tête Aux Vents hoch über Chamonix schweift mein Blick immer wieder in die umliegende, gigantische Bergwelt und ich „verliere“ mich in dieser unfassbaren Atmosphäre. 90 Kilometer und 6000 Höhenmeter in den Beinen, ganz allein im Dämmerlicht auf hochalpiner Strecke fühle ich mich so klein und unbedeutend und trotzdem so lebendig wie selten zuvor. Ich verliere den Fokus, stolpere, taste mich vorsichtig vorwärts. Martin erzählt mir später ich war um 21:13 Uhr im Ziel angekündigt. Angekommen bin ich um 21:47 Uhr. Hier oben habe ich gegen Ende des Rennens wohl noch einige Zeit verträumt – nicht verplempert.

Der Traum von Chamonix

Erst bei der Seilbahnstation La Flégère etwa sieben Kilometer vor dem Ziel finde ich wieder ins Rennen. Bei völliger Dunkelheit fliege ich im Schein der Stirnlampe den Lichtern Chamonix entgegen. Was mich hier die letzten zwei Kilometer erwartet ist unfassbar und ich bekomme immer noch Gänsehaut. Scheinbar die ganze Stadt ist auf den Beinen, bildet ein hell erleuchtetes Menschenspalier in Dreierreihen. Mit Kuhglocken bewaffnet und von Gesängen begleitet, wird jeder ankommende Läufer gefeiert wie ein kleiner Held – bis zum Finish am Marktplatz in Chamonix-Mont-Blanc.

Nach 12:47h laufe ich als 38. des CCC ins Ziel. Das bedeutet sogar Platz drei meiner Altersklasse und ich darf auf das legendäre Podium des UTMB. Zumindest theoretisch: Um 1 Uhr nachts sitzen Martin und ich schon wieder im Bus Richtung Heimat – familiäre Verpflichtungen rufen. Was bleibt sind unglaubliche Erlebnisse und Eindrücke, gepackt in einen 72-stündigen, intensiven Roadtrip. Einmal Lebenstraum zum Mitnehmen, bitte!

UTMB 2021: Markus Mingo beim CCC im Rahmen des Ultra Trail du Mont Blanc © Tobias Achatz
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