Reportagen

Mentale Monster im Bayerischen Wald – Ein Lauf, der unter die Haut geht

5 Uhr morgens. Der Regen peitscht gegen das Fenster, der Wind pfeift um die Hausecke, und ich liege wach im Bett – Gänsehaut, Bauchschmerzen, Zweifel. Draußen tobt ein Novembersturm, und ich hoffe insgeheim auf die erlösende Nachricht von Mario: „Kann man nicht durchziehen – wir sagen ab.“ Doch die WhatsApp bleibt aus. Kein Rückzug, keine Ausreden. Heute ist der Tag, an dem ein Herzensprojekt Wirklichkeit wird.

Seit Jahren spukt diese Idee in meinem Kopf herum: eine große, zusammenhängende Runde durch meine Heimat, von Bad Kötzting über die legendären 12-Tausender-Gipfel, hinauf zum Großen Arber und auf der anderen Seite des Gebirgszuges, entlang des deutsch-tschechischen Grenzsteigs über Zwercheck, Osser und Hohen Bogen zurück. Eine logische, atemberaubende, technisch anspruchsvolle Runde durch den Bayerischen Wald mit 76 Kilometern und 3336 Höhenmetern. Noch nie so gelaufen. Noch nie so konsequent gedacht.

Nur: bei Dauerregen und Temperaturen knapp über Null hatte ich mir das Abenteuer anders vorgestellt.

Ein Team, das trotz Regen glänzt

Große Bayerwald Runde im Herbst: Startbereich

Trotzdem stehen wir am Start. Mit dabei: das xc-run.de Trailrunning Team, und einige prominente Gastläufer wie Patrick Ehrenthaler sowie Michael und Lisa Münsterer. Schon beim Start wird klar: Das hier ist kein Wettkampf, das ist eine gemeinsame Mission.

Zwei Gruppen formieren sich – vorne Patrick und ich, dahinter die starken Mädels um Lisa und Bine Wurmsam. Der Regen wird zur Nebensache. Wir lachen, wir scherzen, wir laufen. Und das Projekt „Große Bayerwaldrunde FKT“ nimmt Fahrt auf.

Am Eck verabschiedet sich Andi Aschenbrenner, der uns bis hierher begleitet hat. Auf dem Goldsteig Richtung Arber wird es ungemütlich: Pfützen werden zu kleinen Bächen, aus Niesel wird Starkregen, und die nassen Oberschenkel fühlen sich langsam an wie Eis. Doch da steht Thomas Wanninger am Schwarzeck, um uns trotz Verletzung einige Meter zu begleiten. Ein stilles Zeichen: Wir sind nicht allein.

Die U.TLW-Sieger der letzten drei Ausgaben, jetzt im Novemberregen, einsam auf der Strecke des „König vom Bayerwald“ – von nichts kommt nichts.

Wenn der Körper friert, läuft der Geist weiter

Nana Buhl: Team XC-RUN.DE

Kälte und Nässe fordern Tribut. Bine und Nana müssen am Brennes aussteigen – erschöpft, aber stolz. Was sie geleistet haben, bleibt groß. Währenddessen kämpfen wir uns weiter.

Ab dem Zwercheck wird der Trail zur Grenzerfahrung. Wortwörtlich. Der Steig hinüber zum Großen Osser verwandelt sich in ein Flussbett. Jeder Schritt ein Risiko, jeder Griff ins Nasse eine kleine Mutprobe. Wir stolpern, rutschen, fluchen – und laufen weiter. Kein Wort mehr, nur das Trommeln des Regens. Jeder ist mit sich allein, tief im eigenen Tunnel. Flow? Vielleicht. Oder einfach nur purer Wille.

„Wenn wir nicht gerade durch Bäche gelaufen sind sind wir in Pfützen getreten!“ (Patrick Ehrenthaler)

Nach sechseinhalb Stunden erreichen wir Absetz. Die Bestzeit? Abgehakt. Aber aufgeben? Das war nie eine Option. Wenn du einmal beschlossen hast, dich diesem Projekt zu stellen, dann läufst du – egal, wie sehr der Regen sticht oder die Muskeln brennen. Mein Handyakku ist leer, das GPS-Signal für das Livetracking tot. Aber wir sind lebendig wie nie.

Leidenschaft, die verbindet

Große Bayerwald Runde im Herbst

Was bleibt, ist dieser gemeinsame Rhythmus. Kein Zielbanner, keine Zuschauer, keine Medaillen. Nur das Atmen, das Stapfen, das gleichmäßige Tippen der Schuhe im Matsch. Das ist Trailrunning in seiner reinsten Form – Leidenschaft, Demut, Freiheit.

Ab Absetz stoßt David Reichel dazu. Gemeinsam stemmen wir die letzten Kilometer in Richtung Höllhöhe und weiter über den Schönblick auf den Hohen Bogen. Die Beine sind schwer, Gesichter und Kleidung gezeichnet – aber keiner denkt ans Aufhören. Ab der Diensthütte ist es nur noch ein Auslaufen.

Und dann, nach neun Stunden, die letzten Meter Richtung Ziel. Kein Jubel, kein Feuerwerk – nur meine Frau Veronika und unsere beiden Jungs, die uns entgegenlaufen. Der schönste Zieleinlauf, den man sich vorstellen kann.

Mentale Monster

Lisa Münsterer

Etwa eine Stunde später kommt Lisa Münsterer ins Ziel – tropfnass, aber mit einem Lächeln, das heller strahlt als die Sonne, die sich heute nie durch die Wolken kämpfen konnte. Sie ist die einzige Frau, die heute finisht – und sinnbildlich für das, was uns alle verbindet: Leidenschaft, Teamgeist, mentale Stärke.

Was bleibt, ist Stolz. Nicht wegen der Zeit, nicht wegen einer FKT, sondern weil wir es als Team durchgezogen haben. Von den Organisatoren, Läufern und Fotografen über den Support, den Begleitern oder den Zuschauern  – gemeinsam, gegen den Wind, gegen die Zweifel, gegen uns selbst.

Ein Tag, der alles hatte: Schmerz, Freude, Teamgeist, Stille, Stolz.
Ein Tag, der zeigt, warum wir laufen.
Nicht für Ruhm oder Pokale – sondern für das Gefühl, lebendig zu sein.

Wiederholung? Unbedingt. Aber bitte bei besserem Wetter.

Distanz: 76 km / 3.300 hm (zur Tour mit GPX-Download)

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