Pitz Alpine Glacier Trail 2022: Angstgegner DNF - xc-run.de Trailrunning

Pitz Alpine Glacier Trail 2022: Angstgegner DNF

Das Pitztal kurz vor Sonnenaufgang © Tobias Gerber

DNF. Did Not Finish. Drei Worte, die Angst und Schrecken bedeuten. Zumindest bei mir. Ich starte, um zu finishen. Ich breche nicht ab. Und wenn der P105 des Pitz Alpine Glacier Trail eine Abbrecherquote von über 70% hat, dann ist das halt so. Oder…?

Es regnet seit Stunden. Schwere Wolken hängen in den sich dich drängenden Steilhängen rund um Mandarfen, kurz vorm Ende des Pitztals. Im Expo-Bereich ist wenig los, das Race Briefing geht kurz die Strecken durch, die heute zwischen 23:00 und 23:20 starten werden: P105, P90 und P60. Es wird immer wieder betont, dass wir vorsichtig sein sollen. Die Strecken seien ohnehin schon sehr technisch und steil – und jetzt halt auch noch nass. Immerhin soll es um 23:00 nicht mehr regnen.

Im warmen Hotelzimmer ist die Vorfreude auf den Start verhalten. Es regnet und regnet. Aber tatsächlich starten wir ohne Niederschlag. Ich habe mich hinten eingereiht. „Lass es langsam angehen!“ haben mir alle geraten, die hier die Königsdistanz schon gelaufen sind. Mache ich gerne. Vor allem, da ich mir beim letzten Trainingslauf den Knöchel übel verstaucht habe. Mal sehen, wie lange er bei diesem Abenteuer mitspielt. Einfach sausen lassen möchte ich dieses legendäre Trailrun-Fest nicht.

Berggespenster

Nach dem Start bilden wir schnell eine 4er-Crew und setzen uns vom Rest unseres Feldes ab. Nach 10 Minuten sind wir im steilen Hang. Nach 30 Minuten fräsen wir uns in die Gruppe, die 10 Minuten vor uns gestartet ist. Im ersten von unzähligen Geröllfeldern trennen sich Spreu und Weizen. Man muss höllisch aufpassen – was bei manchen zu dramatischem Tempoverlust führt. Wir sind auf dem Weg hoch zum Mittagskogel auf über 3.000 Metern. Auf diesem Weg sind wir noch lange.

Das Pitztal kurz vor Sonnenaufgang © Tobias Gerber

Oben gibt es eine kurze VP-Pause, nach der sich das Feld noch weiter auseinanderzieht. Neue Kleinstgruppen entstehen und suchen gemeinsam nach den Wegmarkierungen. Im Dunkeln ist das hier oben gar nicht so einfach.

Es ist kalt. Irgendwann laufe ich wieder alleine. Habe ich abgehängt? Wurde ich abgehängt? Ich weiß es nicht. Der Fokus liegt allein auf dem Weg vor mir und der Suche nach dem nächsten Marker. Und plötzlich ist er da: der Gletscher. Höhepunkt der ersten Runde und das, was viele über den PAGT wissen. „Ist das nicht der Lauf, der über den Gletscher geht?“ Ist er. Ein paar Streckenmarkierungen und die Lichter weiter vorne Laufender zeichnen den Weg vor. Gruppen gibt es hier keine mehr. Jedes Licht läuft alleine über den schwindenden Eisriesen im leichten Nieselregen. Eine unwirkliche Reihe von Berggespenstern auf dem nicht ganz so ewigen Eis.

Irgendwann geht es endlich wieder runter. Es wird wärmer, der Weg ist steil und – wenig überraschend – nur schwer laufbar. Bisher ist die Strecke tatsächlich so technisch, wie alle gesagt haben. Das gefällt mir ganz hervorragend! Erst der finale Forstweg zurück nach Mandarfen rollt sich easy weg. Das ist zur Abwechslung dann auch mal ganz schön. Nach Loop 1 in rund 4h hält der Knöchel, hat sich aber schon mehrfach gemeldet. Wirklich cool findet er das alles nicht. Ich überlege schon, nach Runde 4 von 5 abzubrechen und damit in die offizielle P90-Wertung zu rutschen. Das ist regeltechnisch erlaubt. Alles andere sind Rennabbrüche.

Kein Land in Sicht

Nebel beim Pitz Alpine Glacier Trail 2022 © Tobias Gerber

Der Weg von Mandarfen hoch zum Rifflsee zieht sich. Ich bin allein. Die Vorstellung, genau diesen langen Aufstieg später nochmal machen zu müssen, nervt mich jetzt schon. Distanz ist Distanz – aber bei einer 105km-Route möchte ich ehrlich gesagt nicht ganze Passsagen mehrmals laufen. Schwerer Regen ist zum Glück erst für Mittag und Nachmittag angesagt, aber Nebel zieht auf. Ein Sonnenaufgang bleibt verwehrt. Überall nur graues Einerlei. Entsprechend nüchtern liegt der sonst wunderschöne Rifflsee vor uns. Ohne seine intensiven Farben wirkt er fad. Wir laufen auf den Fuldaer Höhenweg. „Loop 2 ist der schönste Teil. Freu dich drauf!“ Ich muss an die Worte einer Bekannten denken, die ich eben noch in Mandarfen gesehen habe, als sie sich für ihren 5:00-Start fertig gemacht hat. Der leichte Wanderpfad war natürlich nicht gemeint, sondern das geile Panorama der 3.000er rundherum, das ich bestaunen würde. Ich sehe leider nur Nebel.

Beine und Kopf werden schwer, aber sie können noch. Wirklich doof wird aber der Knöchel. Zwar spielt er noch mit, aber auch die 90 Kilometer sind ehrlicherweise totaler Schwachsinn, wenn ich Knöchel und Bänder nicht komplett zerballern will. Der Gedanke reift nicht nur, er ist da: Es macht keinen Unterschied, ob ich 2 oder 3 der insgesamt 5 Runden laufe: ich muss abbrechen, wenn ich gesund bleiben will. Dass ich vom Panorama die meiste Zeit mal so gar nichts sehe und den angesagten Regen auch echt nicht brauche, macht die Entscheidung umso leichter.

Und dann wurde alles ganz einfach

Ich sammel unterwegs einzelne Läufer ein, werde ab und zu überholt. Irgendwann holt mich jemand wieder ein, den ich irgendwann überholt hatte. Wir laufen jetzt zusammen weiter und gestehen uns gegenseitig, dass wir beide nach dieser Runde aussteigen. Ab jetzt wird alles was vorher schwer war ganz einfach. Wir gehen, wo es steil ist, laufen wo es laufbar ist, quatschen ein wenig und betrauern, wie brutal der Gletscher hinterm Taschachhaus zurückgegangen ist. Irgendwann kommt uns jemand den Weg hinauf entgegen. Nach kurzem Schnack stellt sich raus, dass er nicht nur XC-RUN.de kennt, sondern die halbe Crew. Er kommt selber aus unserer Homebase im Bayerischen Wald. Kleine Welt.

Blick auf den immer weiter verschwindenden Gletscher beim Pitz Alpine Glacier Trail 2022 © Tobias Gerber

Ein gutes Stück nach dem Taschachhaus steht die letzte VP dieses Laufes. Unter anderem rennt Ida-Sophie Hegemann an uns vorbei, die ca. eine halbe Stunde davon entfernt ist, den P45 Rifflsee zu gewinnen. Als ich – jetzt wieder solo – final zum Ziel laufe, regnet es wieder ordentlich. Der Moment der Momente steht an. Der Augenblick, vor dem ich mich immer gefürchtet habe: Ich gebe die Startnummer ab. Ich bin überrascht, wie leicht das ist. Ich weiß, dass ich meinen Knöchel damit rette. Ich komme aus dem Regen raus, anstatt ihn und die nächsten Schauer ertragen zu müssen. Ich muss nicht wieder auf teilweise eben schon gelaufenen Wegen den Berg hoch oder runter. Ich gehe heiß duschen und dann einfach ins Bett.

Happy End

Nächster Morgen. Die Luft ist kühl und sauber. Der Himmel sanft blau mit einem weißen Schleier, als wäre nie etwas gewesen. An meinem Knöchel ist ein hübsches Ei. Aber weniger, als befürchtet. Statt einer Medaille für den wohl härtesten und technischsten Lauf meines Lebens bekommen zu haben, bin ich jetzt Mitglied im stetig wachsenden Team DNF. Auf der Fahrt aus dem Pitztal heraus bin ich zufrieden. Mein 46 Kilometer langer Lauf mit 3.000 Höhenmetern war fordernd, intensiv, oft belohnend und noch öfter einfach nur bleiern in der schwülen Nässe des Nebels. Ich freue mich auf den nächsten Lauf. Ob ich das auch tun würde, wenn ich mich gestern kaputt gelaufen und dabei wahrscheinlich meinen Knöchel geschrottet hätte?

Dieses Jahr gewinnt Florian Grasel die P105 Königsdistanz. Wie sich der lange Pitz Alpine Glacier Trail anfühlt, wenn man ihn finisht und gewinnt, lest ihr im Bericht von Basilia (2019):

Wie viel Grenzerfahrung ein Finish beim P105 aber auch ist, erzählt euch Michael (2020):

2022 war der PAGT mit dem P30 auch Teil der Golden Trail National Series. Die Profis konnten die Streckenrekorde bei Männern und Frauen deutlich unterbieten. Details lest ihr hier.

Tobias Gerber

Bilder vom Wettkampf

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