Ultratrail: Fürs Leben lernen - xc-run.de Trailrunning

Ultratrail: Fürs Leben lernen

Michael Förster Team XC-RUN.DE © Michael Rackl

Michael Förster erfüllte sich im Herbst 2023 einen sportlichen Lebenstraum: Der Team XC-RUN.DE Athlet finishte nach 330 Kilometern, 24000 Höhenmetern und etwa 130 Stunden Laufzeit den legendären Tor de Geants. Mit dabei die großen Sinnfragen des Ultra-Trail-Laufes. Im Artikel blickt er zurück auf den TOR, vor allem aber auf die Zeit danach. Auf den Transfer vom Ultratrail zum normalen Leben.   

lifechanging

Erzählungen über Ultratrails folgt meist ein „Warum“ der Zuhörer.

Warum tut man sich so etwas an? Und wenn schon.

Warum sollte man sich nicht mit der Marathondistanz begnügen?

Warum sollte man Tag und Nacht – müde und erschöpft – immer weiter machen?

Die Antwort ist häufig genauso simpel wie prägnant: lifechanging.

Doch was genau ändert sich nach dem Abenteuer?

Ultratrail – fürs Leben lernen

Endlich. Der Zielbogen ist in Sichtweite. Der Körper vergisst die Anstrengungen der hinter ihm liegenden Renndistanz. Eine letzte Beschleunigung. Für den erhabenen Moment beim Überqueren der Ziellinie. Doch muss man dafür wirklich eine Ultradistanz laufen? 24 Stunden am Stück unterwegs sein. Oder noch viel länger?

Rational im ökonomischen Kontext wäre eine sukzessive Reduktion der Strecke, bis Aufwand im Sinne der zurückgelegten Distanz und Glücksgefühl beim Überqueren der Ziellinie im optimalen Verhältnis stünden. Viele Faktoren wären bei dieser Kalkulation zu berücksichtigen. Laktat, anaerobe Schwelle, etc. Auch individuelle Faktoren dürften eine Rolle spielen. Das Ergebnis würde dann wahrscheinlich auf einem Kontinuum zwischen tausend Metern und Halbmarathon liegen.

Gegen die Ultradistanz spräche auch, dass Schlafmangel, Energiedefizit und allgemeine Erschöpfung starken Glücksgefühlen entgegenwirken. Warum sollte man dennoch dreistellige Distanzen zurücklegen? Die Gründe sind individuell. Ich nutze den Rückblick auf meine diesjährige Tor de Geants, um meine Sicht darauf zu schildern. Ich finde es faszinierend, wie viel ich während eines Ultras über mich selbst lerne. Dabei gilt die Formel: Je länger, desto mehr, desto intensiver.

Eat Snickers, eat Mountains!

Der Startschuss fällt. Ich beginne voller Energie. Nach einigen Stunden meldet mein Körper kleinere Probleme. Muskeln werden schwer. Sehnen schmerzen. Ein Rookie würde nun erwarten, dass sich die Beschwerden verschlimmern. Manchmal ist das auch so. Doch meist genügt eine kurze Pause, Flüssigkeit oder Carbs und es geht wieder besser. Es gibt keinen linearen Prozess nach unten. Nach jedem Down kommt wieder ein Up.

Unvergessen in Erinnerung bleibt mir meine Pause im Rifugio Lo Magià. Fünf Tage waren seit dem Start vergangen. Müde und erschöpft betrat ich das Rifugio. Ein Cafè Americano und ein Snickers änderten alles. Bräuchte ich einen Claim für Schokoriegel, würde ich vorschlagen: „Eat Snickers, eat Mountains!“

Was für eine wertvolle Erkenntnis! Ich muss nur etwas adjustieren, weitermachen und alles wird wieder gut. Was für eine Parallele zum richtigen Leben. Im Job, im Projekt, Studium, meiner Beziehung – egal welche Variable ich einsetze – wenn ich dran bleibe, geht es wieder nach oben. Ich darf nur nicht aufgeben.

Lifechanger 1: Einfach nur weitermachen dreht jede Downphase wieder nach oben!

Central Governor Theory

Dieses Modell sieht Erschöpfung nicht als lokales, muskuläres Ereignis, sondern als ein vom Gehirn gesteuertes Schutzprogramm. Bei Kilometer 37 eines Marathons hält diese Steuerungseinheit uns zurück, auf den letzten 400 Metern lässt sie uns „all-in“ gehen. Es ist jetzt nicht mehr riskant, zu overpacen. Lange Einheiten im „pain-cave“ verändern unsere Schmerzbeziehung. Gewöhnung tritt ein. Athleten konnten daher im Vergleich zu Nicht-Sportlern im Rahmen einer Versuchsreihe ihre Hand deutlich länger in Eiswasser halten.

Ich habe auch das Gefühl, dass unser Gehirn sich von Anfang an der Distanz bewusst ist und uns bis zur jeweiligen Ziellinie durchhalten lässt. In der Vorbereitung auf die Tor de Geants bin ich Teilstücke abgelaufen. Es wäre an jedem dieser Tage unvorstellbar gewesen, weitere Etappen an das Tagessoll anzuhängen. Der Rennmodus dagegen war darauf programmiert, mich das Ziel in Courmayeur erreichen zu lassen.

Übertrage ich diese Erkenntnis auf das reale Leben, stellt sich mir die Frage: Wo ist mein Ziel? Wo ist die Finishline meines Lebens? Habe ich meine Ziele zu gering gesetzt? Vielleicht hätte ich viel mehr Potenzial für Studium, Job und Karriere. Vielleicht müsste ich die Ziellinie nur von Marathon auf Ultra, von 100K auf 100M, von 100M auf 200M verschieben. Vielleicht sollte es gar keine Ziellinie geben, bzw. jede Ziellinie wieder eine Startlinie sein.

Lifechanger 2: Große Ziele lassen uns länger durchhalten!

Zurück in die Gegenwart

Einmal programmiert und damit auf die Zukunft ausgerichtet, muss ich gleich nach dem Start wieder in die Gegenwart zurückfinden. Nichts ist gefährlicher, als das Finish herbei zu träumen und dabei den Lauf zu vergessen. Meine Wahrnehmung gleicht dem Bordcomputer eines Autos. Permanente Überwachung aller kritischen Prozesse. Die kleinsten Probleme können im Laufe langer Rennen riesig werden und zur Aufgabe führen. Blasen an den Füßen kann man eine Zeit lang aushalten. 2022 hielt ich sogar fünf Tage damit aus. Aber irgendwann schränkt der Schmerz die Bewegungsamplitude derart ein, dass eine funktionierende Fortbewegung unmöglich wird.

Wie erfolgreich wäre unsere Lebensführung, würden wir in allen Lebensbereichen so agieren. Permanentes Controlling unserer Gesundheit, Finanzen, Beziehungen … – und sofortigen korrektiven Handlungen. Jedes Problem bereits im Anfangsstadium wahrnehmen, identifizieren und eliminieren. Und ohne bedeutende Einschränkungen weiter an der Verwirklichung unserer Ziele arbeiten können.

Lifechanger 3: Wer kleine Probleme eliminiert, bekommt keine großen!

Das Rennen meines Lebens

Alle Bahnen eines 100 Meter-Sprints sind gleich lang. Die Mitte ist dennoch ein Vorteil. Dort hat man den Überblick über die Läufer auf beiden Seiten. Je länger die Distanz, desto unbedeutender die Konkurrenten links und rechts. Irgendwann läuft jeder sein eigenes Rennen – gegen sich selbst und mit sich selbst. Und irgendwann sogar mit den anderen. Aus Konkurrenten werden Partner. Jeder weiß, dass das individuelle Ergebnis bei Kooperation besser sein wird.

Wie oft im normalen Leben blicken wir zur Seite, um uns zu vergleichen. Warum wird der Kollege befördert? Warum gelingt einem Bekannten alles besser? Doch das Leben ist länger als ein Sprint, sogar deutlich länger als ein Ultra. Vielleicht läuft der Kollege nur die Mitteldistanz? Wir müssen unser eigenes Rennen kennen. Und nicht verunsichert sein, wenn jemand uns von hinten überholt. Vielleicht ist er gerade erst losgelaufen und wird bald schon erschöpft sein. Wir sollten das Renntempo unseres Lebens finden und diesem dann auch treu bleiben.

Vergleiche können hinderlich sein, auch Vergleiche mit einem selbst. Das beginnt bereits in der Vorbereitung. Ich habe aufgehört, jede Trainingseinheit akribisch zu analysieren. Ich bewerte auch nicht mehr jeden Lauf. Stattdessen bin ich stolz drauf, geliefert zu haben. Mal lang, mal kurz. Mal steil, mal flach. Mal schnell, mal langsam. Egal. Hauptsache geliefert. Immer im Wissen, dass es sich langfristig auszahlt. Im Business kommen viele Industrien aufgrund Reporting-Overkills kaum zum arbeiten. Im Alltag bewerten Likes auf Social Media unseren Stellenwert innerhalb der Gemeinschaft. Doch dabei wird vergessen. Der Prozess ist wichtiger als die Performance-Messung. Ganz gleich in welchem Lebensbereich. Nichts ändert sich durch permanente Bewertung, alles ändert sich durch die Umsetzung des Prozesses.

Lifechanger 4: Agieren statt analysieren!

Unbedeutendheit

Die Etappe von Donnas über das Rifugio Coda, Rifugio Parma bis nach Neil forderte mich am meisten. Nacht, Regen, unrhytmische, technische Trails. Am Übergang der Crenna di Ley ist es tiefste Nacht. Tief unter mir leuchten Lichter im Tal von Gressoney. Doch hier oben bin ich komplett allein. Und so müde.

Das sind die Momente in denen mir meine Unbedeutendheit bewusst wird. Ich hatte Glück. Die Gewitter sind an mir vorbeigezogen. Doch ich weiß, der Natur bin ich egal. Wie klein bin ich im Schatten des riesigen Gebirges.

Ich bin dankbar für diese Erkenntnis. Wie oft denken wir – gerade im Business – wir wären unersetzlich. Wie sehr setzen uns oft unlösbare Herausforderungen zu. Doch die Erkenntnis der eigenen Insignifikanz lässt auch unsere Probleme kleiner und unbedeutender werden. Im Gegenzug gewinne ich hierdurch Freiheit.

Unser normales Leben ist von Reflexivität geprägt. Unsere Entscheidungen beeinflussen die Situation. Alleine in der Natur zu sein, bringt uns in den Zeitraum der Aufklärungsphilosophie zurück, als Realität als etwas von der Vernunft Getrenntes angesehen wurde. Die Rückbesinnung auf diese Separation wirkt auch noch lange nach einem Ultralauf komplexitätsreduzierend und damit in Krisensituationen gedanklich deeskalierend nach. Egal, zu was ich mich nachts auf der Crenna di Ley entscheide. Dem Berg ist es egal. Manchmal ist es gut, im richtigen Leben genauso zu entscheiden und nur sein Ziel zu verfolgen.   

Lifechanger 5: Der Welt ist egal, was wir tun. Wir sind frei!

Der Weg oder das Ziel

Lange Strecken war ich während der Tor alleine unterwegs. Es war schön. Gerade nachts. Nur die paar Meter im Lichtkegel meiner Stirnlampe. Honoré de Balzac sagte einmal, „Einsamkeit ist schön. Aber man braucht jemanden, dem man sagen kann, dass Einsamkeit schön ist.“ Manchmal habe ich dafür einen Begleiter gefunden. Auf dem langen Weg von Cogne zum Rifugio Dondena fast wortlos, hinauf zum Rifugio Frassati sehr kommunikativ.

Nach langer Zeit – genau genommen etwas unter 130 Stunden – habe ich das Ziel erreicht. Die Erschöpfung verhinderte erstmal große Emotionen. Diese kamen dafür in den Tagen und Wochen danach. Ich glaube, in den knapp zwei Monaten ist kein Tag vergangen, an dem nicht Bilder von Sonnenaufgängen, Pasta und Polenta und schwarzer Nacht vor meinem inneren Auge aufgeflackert sind. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit – gegenüber meinem Körper, der Natur, meiner Betreuerin Basilia, den begeisterten Zuschauern, den vielen Volunteers. Und manchmal wenn ich mich nach einem Training ausruhe, auch dafür nicht aufstehen und weiterlaufen zu müssen. Gleichzeitig aber auch eine gewisse Trauer, dass es schon vorbei ist. Doch bin ich mir sicher, dass die Ziellinie in Courmayeur bald wieder mal Startlinie sein wird.

Was ist nun also wichtiger – Weg oder Ziel? Der große Panda antwortete dem kleinen Drachen auf diese Frage, „die Gefährten“. Die Erfahrung zeigt mir, wie wichtig die kontemplativen Momente der Einsamkeit sind, dass Zielerreichungen nur Etappen auf dem Weg zu größeren Zielen sind und es am schönsten ist, uns in Gemeinschaft darüber auszutauschen.

Lifechanger 6: Jedes Ziel begrenzt nur eine Etappe auf unserem Weg!

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