Und wenn ich die Augen öffne ist vielleicht wieder alles gut – Basilia beim Lavaredo Ultra Trail

Wie haben wir mitgefiebert mit unseren deutschen und „eingedeutschten“ Startern beim Lavaredo Ultra Trail 2018. Am Ende stand ein beeindruckender 4. Platz von Stephan HUGENSCHMIDT, der nach über 12 Stunden Laufzeit mit nur einer Minute Rückstand auf den amerikanischen Profi Tim TOLLEFSON das Podium verpasste, ein guter 25. Platz von Matthias KRAH, der nach eigenen Aussagen etwas hinter den eigenen Erwartungen blieb und Florian FELCH und Christian ZETTLER, die in diesem starken Starterfeld unter die Top 50 liefen.

Und dann war da unsere Langstreckenqueen Basilia Förster  vom XC-RUN.de Trailrunningteam, die auf dem Liveticker erst immer langsamer wurde und soooooo kurz vor dem Ziel plötzlich ein DNF stehen hatte, dass wir erst alle an einen schlimmen Sturz oder eine schwere Verletzung dachten. Hier lest ihr ihre persönliche, unglaublich fesselnde Geschichte zum Lavaredo Ultratrail 2018…

Lavaredo Ultra Trail: Erfahrungsbericht von Basilia Förster

Mittlerweile ist es 18 Stunden her. Ich hatte eine bittere Entscheidung treffen müssen. So kurz vor dem Ziel des Lavaredo Ultratrails.

Ich sitze am Lago di Landro. Das Buch neben mir bleibt unbeachtet. Ich blättere in meinem eigenen Buch. Die Einleitung stand schon im letzten Jahr fest. Nach dem UTMB wollte ich das zweite europäische Rennen auf internationalem Top-Level finishen.

Vor mir liegt der türkis schimmernde See. Dahinter die Dolomiten. Ich blicke hinauf zu den Drei Zinnen. Majestätisch. Erhaben. Unverletzlich. Wächter der Dolomiten.

Kapitel 1 – Die Nacht

Freitagabend sprang etwas von diesen Eigenschaften hinab nach Cortina. Infizierte das 1500 Läufer starke Teilnehmerfeld. Es ist kurz vor 23 Uhr. Cortina ist hellwach. Die Startzeremonie gleicht einer gigantischen Party. Che spettacolo! Ich fühle mich gut. Vergessen sind die Probleme mit meinem Knöchel. Mein Körper ist bereit. Ich bin es sowieso. Endlich. Der Countdown. Dieci, nove, otto … Der Startschuss fällt. 500 Meter lang sind wir Läufer der Mittelpunkt des pulsierenden Nachtlebens. Es geht aus Cortina heraus. Doch es wird nicht so recht dunkel. Die Stirnlampendichte ist vorerst noch hoch. Das Tempo ebenfalls. Mir geht es gut. Die Beine sind leicht. Der Kopf frei. Ich freue mich auf das Abenteuer. Ich liege gut im Rennen. Die ersten beiden Anstiege habe ich hinter mir. Die Nacht ist klar. Der Mond deutlich zu sehen. Wunderschön.

Ich blicke hinaus auf den See. Frage mich, warum dieses schöne Kapitel zu Ende gehen musste. Blättere zum nächsten Kapitel. Dunkle Wolken hängen mittlerweile an den Dolomitenwänden. Ich versinke wieder in Gedanken.

Kapitel 2 – Sonnenaufgang

Es geht hinab zum Passo Tre Croce. Mein Knöchel meldet sich. Die Schmerzen steigern sich schnell. Ich laufe vorsichtig runter. Es geht weiter bergab. Auf der Strecke wie im Ranking. Irgendwann komme ich beim ersten großen Verpflegungspunkt an. Es ist bitterkalt. Trotzdem warten zahlreiche Betreuer. Mein Mann Michael erwartet mich auch schon. Iso, Gel, aufmunternde Worte, weiter geht’s. Rauf zum Lago Misurina komme ich wieder etwas in Fahrt. Die Bergauf-Passagen sind technisch leicht zu meistern, bergab ist es dafür umso anspruchsvoller. Diese Aufteilung sollte auch das restliche Rennen über so bestehen bleiben. Ich versuche, mit den Schmerzen zu leben, zu laufen. Michael steht am Streckenrand, feuert mich an. Es ist kurz nach 4 Uhr morgens. In diesem Moment erwacht die Sonne hinter den Bergen. Die indirekt beleuchtete Felskette spiegelt sich im See. Ein atemberaubendes Naturschauspiel. Wir laufen weiter bergauf. Die Tre Cime di Lavaredo erstrahlen im Rot des Sonnenaufgangs. Stupenda. Die Naturschauspiele stehen im Kontrast zu meinem Befinden. Tränen kullern über mein Gesicht. Es sind zu viele Emotionen. Ein langer, schmerzhafter Abstieg folgt hinab ins Val di Landro.

Ich blicke über den See. Etwas dahinter verlief die Strecke. Hinauf zum Cimabanche. Die Kälte der Nacht löst sich auf. 66 KM habe ich geschafft. Ich freue mich, meinen Mann wieder zu sehen. Der nächste große Posten ist erst 30 KM später. Aber wie so oft bewirkt die Sonne Wunder. Ein traumhafter Sommertag beginnt. Ich habe mich mit den Schmerzen arrangiert. Es läuft wieder etwas besser. Doch auch dieses Kapitel geht zu Ende.

Kapitel 3 – Im Bann der Schmerzen

Die lange Bergauf-Passage im Val Travenanzes tut meinem Knöchel gut. Ich freue mich über die aufmunternden Worte der vielen Läufer des kürzeren Cortina Trails. Es ist nicht mehr so einsam auf der Strecke. Im Gegenzug zum besser werdenden Knöchel meldet sich nun ein Punkt unterhalb meiner Hüfte. Erst weitgehend unbemerkt, dann immer stärker. Auf einmal macht der Oberschenkel zu. Es geht gar nichts mehr. Ich bin verzweifelt, rufe Michael an. Doch die Verbindung ist zu schlecht. Er kann mich nicht verstehen. Langsam kämpfe ich mich weiter. Wahrscheinlich habe ich das rechte Bein zu stark belastet, um den linken Knöchel zu schonen. Jetzt musste ich wieder zurück wechseln. Den Knöchel spüre ich kaum noch. Vielleicht kann unser Gehirn nicht zwei Schmerzpunkte gleichzeitig verarbeiten. Langsam ging es hinauf zum Col dei Bos. Was für eine Überraschung. Oben stand Michael. Nachdem er mich nicht erreichen konnte, lief er mir entgegen. Meine Freude ist riesengroß. Ich habe nicht erwartet, ihn hier zu sehen. Begleiten durfte er mich leider nicht. Ich versprach ihm, es bis zum Passo Falzarego zu schaffen. Michael lief wieder zurück und bereitete meine Verpflegung vor. Ich war wieder frohen Mutes. Es ging ein bisschen besser. Vielleicht doch noch ein kleines Happy End?

Ich blickte wieder auf den See. Ein kleiner Junge warf einen Stein hinein. Kleine Wellen rollten unaufhaltsam zum Ufer. So verhielt es sich mit meinem Schmerzpunkt. Er strahlte immer weiter aus. Schmerzwellen durchfluteten meinen Körper. Ich versuchte, um den Schmerz herumzulaufen, ihm auszuweichen. Aber es gelang nicht. Der Schmerz gab nicht nach. Zwang mir seine Tempovorstellung auf. Begrenzte meine Schrittlänge. Ich wurde langsamer und langsamer. Immer mehr Läuferinnen überholten mich. Irgendwie schaffte ich es bis zum Passo Giau. Ein letztes Treffen mit Michael. „Bis gleich in Cortina“, rief er mir zum Abschied zu.

Kapitel 4 – Und wenn ich die Augen öffne…

Das Ziel einer Top10 Platzierung war schon lange Geschichte. Ankommen, nur ankommen – mehr wollte ich nicht. Mehr konnte ich nicht – nicht mehr. Die Strecke vom Passo Giau bis zum Rifugio Croda del Lago nahm kein Ende. Vor dem zweiten Anstieg legte ich mich ins Gras. Ich lies mich einfach fallen. Vom Trail in die Wiese. Ich schloss die Augen. Ich sagte mir, wenn ich sie wieder aufmache, ist vielleicht wieder alles gut. Nach ein paar Minuten kam ein Läufer vorbei. Er fragte, warum ich weinte. „Weil ich Schmerzen habe“ antwortete ich. Aber es war nicht die Wahrheit. Ich wollte doch nur laufen. Aber es ging nicht. Irgendwie schleppte ich mich zum Rifugio. 108 von 120 Kilometern waren geschafft. Mittlerweile war ich 19 Stunden unterwegs.

Eine kurze Pause in der warmen Hütte. Ein neuer Versuch. Das Bein ließ sich nicht mehr nach vorne bewegen. Ich konnte nicht mehr auftreten. Die Lavaredo-Story war vorbei. Das Ende dieser Geschichte bleibt offen – vorerst. Ein Jahr lang werde ich nun gedanklich die alternativen Enden durchspielen. An schlechten Tagen die Worst Case Szenarien. Weitermachen, im Downhill stürzen und mich noch schwerer verletzen. An guten Tagen das Happy End. Die Schmerzen würden verschwinden. Ich würde den Downhill nach Cortina nicht gehen. Ich würde wieder rennen. Die Trails hinunter fliegen. Die Ziellinie überqueren. Glücklich zu Boden sinken.

Ich blicke wieder hinaus aufs Wasser. Meine Überzeugung wächst. Diese Geschichte schreibe ich zu Ende. Mit einem Happy End. Ich will die Ziellinie erreichen, aber ich will auch sie wieder sehen – die Drei Zinnen. Leuchtend im Morgenrot. Kraftvoll, unnahbar, aber auch beschützend. Ich will diese schöne Strecke genießen. Die permanente Abfolge schroffer Dolomiten und lieblicher Täler. Eines Laufs, dessen Herausforderung im Streckenverlauf zunimmt, der einem auf den Bergpassagen alles abverlangt. Gerne möchte ich es auf das Podium schaffen. Aber noch viel wichtiger ist mir, hier wieder zu laufen. Ti amo Lavaredo!