Michael Förster macht sich Gedanken über die wettkampffreie Zeit.
Die Nacht war kurz. Ich habe trotzdem gut geschlafen. Das Frühstück fällt spärlich aus. Etwas Hafermilch mit Espresso. Kohlenhydrate gab‘s gestern auf der Pastaparty genug. Ich schnüre meine Schuhe und gehe nach draußen. Die Startlinie liegt in unmittelbarer Nähe zu meiner Unterkunft. Den Weg dorthin nutze ich zum Aufwärmen. Ich starte die Musik für meine In-Ears. „Eye oft the Tiger“ in voller Lautstärke. Die Strecke beginnt mit einem kurzen Flachstück. Ich fühle mich gut. Von Beginn an mache ich Tempo. Gleich steigt der Weg an. Die ersten Höhenmeter signalisieren mir, dass heute ein herausfordernder Trailrun bevorsteht. 1.048 Höhenmeter auf nur 12,4 Kilometer. Der Weg verengt sich bald zu einem Singletrail. Der Finzbach plätschert lieblich neben mir in die entgegengesetzte Richtung. Danach wieder ein Stück Forststraße. Nur unmerklich gewinne ich an Höhe. Bis es auf einmal rechts auf einem steilen Fahrweg nach oben geht. Dann nochmal eine kurze Flachpassage nach zwei Dritteln der Strecke. Bloß nicht nachlassen. Ich zwinge mich, das Tempo zu forcieren. Das finale Steilstück wird zur Laktatparty. Stufen, Wurzelpassagen oder einfach geradeaus durch steile Schneefelder. Steil ist geil. Meine Waden brennen. Der Schweiß fließt trotz der kühlen Morgentemperaturen. Kein Läufer vor mir, keiner hinter mir. Wie so oft. Ein Rennen gegen die Uhr. Ein kurzer Blick darauf. Die Einstellung zeigt mir die Vertical Speed. Mein Gefühl bestätigt sich. Ich bin auf Kurs. 80 Sekunden sogar unter Plan. Der Personal Record ist zum Greifen nahe. Der Puls ist am Anschlag. Ich lehne mich bei jedem Schritt nach vorne. Jeder Muskel hilft mit. Die Stöcke helfen mir zusätzlich. Das Ziel ist zum Greifen nahe. Mit letzter Kraft klatsche ich den Holzbalken vor der Hütte ab. Nur eine Zehntelsekunde später stoppe ich meine Uhr. Ich gehe in die Knie. Kurz darauf hyperventilierend zu Boden.
Kafkas Türhüterlegende
Ein älterer Herr blickt von seiner Lektüre auf und mustert mich ausgiebig. Als ich wieder zu Atem komme, frage ich ihn noch sichtlich benommen, wo denn all die anderen Läufer wären. Er antwortet im Bann der gerade gelesenen Türhüterlegende Kafkas. „Hier kann kein anderer Läufer heraufkommen, denn dieses Ziel war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe es.“
Mühsam rapple ich mich auf. Ich reibe mir den Schweiß aus den Augen. Niemand ist hier. Der ältere Herr ist verschwunden. Seine Erscheinung war wohl meinem Sauerstoffdefizit geschuldet. Ich huste. Zum Glück ist niemand hier. Zum Glück auch nur Laktathusten. Während ich meinen Blick über die schneebedeckten Gipfel schweifen lasse, reflektiere ich meinen Wettkampf. Einen Wettkampf gegen mich, meine Uhr.
Alleine an der Startlinie
Die Startlinie liegt nicht weit vor meiner Haustür. Das Ziel knapp unter dem Gipfel des Krottenkopfs. Den sehe ich aus meinem Schlafzimmerfenster jeden Morgen. Die Strecke ähnelt denen vieler Wettkämpfe. Nur mit dem Unterschied, dass man meist alleine ist.
Den Downhill gehe ich heute gemütlich an. Trekking wähle ich in meinem Uhr-Menu. Ich denke nach. Darüber, was denn der Unterschied meines Laufs zu konventionellen Rennen ist.
Pastaparty? Bei mir gestern Abend und jetzt gleich wieder!
Zeitmessung? Meine Suunto!
Verpflegung? In meinen Flesks!
Motivation? Top!
Ranking? Strava Segment!
Kudos statt Shake Hands
Gratulation und Shake Hands? Stimmt, das fehlt. Mein Smartphone vibriert. Die Pushup-Nachricht zeigt mir, schon 16 Kudos. Also auch Haken dran!
Zugegeben, etwas einsam ist es schon. Ich denke zurück an die Stimmung großer Trailrun-Events. Mit dem Place du Triangle de l’amitié kann die Finzbachklamm und Weilheimer Hütte nicht ganz mithalten. Doch für die Übergangszeit bis die Rennpause überwunden ist, wird mir diese Variante helfen, in Wettkampflaune zu bleiben.
Plötzlich fällt mir auf, dass ich gar nicht kontrolliert habe, ob es zur Bestzeit gereicht hat. Das ist auch eine Parallele zu vielen Wettkämpfen. Wir treten mit dem Ziel einer Bestzeit oder Top-Platzierung an. Doch danach überwiegt das Glücksgefühl, das alles andere in den Hintergrund treten lässt. Ganz gereicht hat es nicht. Vielleicht war ich noch nicht so gut in Form, vielleicht lag es am Schnee. Trotzdem bin ich stolz auf meine Segment-Krone. Ich glaube, ein älterer Herr hat sie mir vor einiger Zeit mal aufgesetzt. Und als ich die letzten Meter durchs Dorf trabe, meine ich an den Blicken einiger Wanderer zu erkennen, dass sie diese auf meinem Haupt, wenn auch nicht sehen, so doch erahnen können.
Die Dusche ist herrlich. Beim Abtrocknen blicke ich durchs Fenster. Hinauf zum Gipfel. Bald, ganz bald greife ich das Segment wieder an. Ich bin überzeugt. Da geht noch was!