Der UTMB – der prestigeträchtigste Ultratrail der Welt – ist für viele Läufer mehr als nur ein Wettkampf. Er ist ein Mythos, eine Prüfung der eigenen Grenzen, ein Tanz zwischen Euphorie und Verzweiflung. Michael Förster, xc-run.de Athlet, hat diesen Grenzgang am eigenen Körper erlebt. Seine Reportage erzählt von Kälte, Nässe, inneren Kämpfen – und von den Schwänen von Champex-Lac, die zu einem Sinnbild für Hoffnung und Neubeginn wurden.
UTMB und die Schwäne von Champex-Lac
Die Scheiben der Autotür sind beschlagen. Nass und grau. Undurchsichtig. Der Blick nach draußen ist verdeckt. Nur langsam kommt mein Bewusstsein zurück. Der Moment des Aufwachens ist geprägt von unspezifischen Gefühlen. Auch meine Gedanken sind verhüllt von diesem emotionalen Nebel. Doch drei Buchstaben ebnen sich schlagartig ihren Weg hindurch: DNF – Did Not Finish.
Zunächst nur vor meinem inneren Auge, bahnt sich diese das Scheitern schonungslos beschreibende Abkürzung ihren Weg in die Außenwelt. Nun sehe ich den Schriftzug klar und deutlich im Beschlag des Autofensters eingezeichnet. Mein Finger folgt meinen Gedanken und ich zeichne die Buchstaben nach. Deren Linien lassen nun einen spärlichen Blick nach draußen zu. Ich sehe die Straße von Orsières. Trauer und Enttäuschung steigen in mir auf. Ich sollte doch in Chamonix sein. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Objekt und Hintergrund tauschen sukzessive ihre Vorherrschaft. Das flächendeckende Grau tritt in den Vordergrund und wartet darauf, von mir ergründet zu werden.
Was war passiert?
Stille nach dem Fest
Mein Blick wird klarer. Das verwaschene Grau teilt sich auf in Schwarz und Weiß. Die Marathondistanz liegt bereits hinter mir. Steil steige ich von Le Balme zum Croix Bonhomme auf. Nun gleicht nichts mehr der Anfangsphase. Alles ist auf einmal anders. Leise statt laut. Schwarz und Weiß statt bunt. Prasselnde Regentropfen statt tanzender Zuschauer.
Diese Vorgänge machen nicht Halt an meinen physischen Grenzen. Sie dringen ein in mein Inneres. Greifen über auf meine Gedanken. In der Startphase glichen diese noch dem regen Treiben eines Volksfests. Mal sprangen sie wild und munter im bunten Konfettiregen umher, mal streiften sie gelassen von einer Attraktion zur nächsten. Im einen Moment tauschten sie sich mit den Emotionen anderer aus, im nächsten blieben sie für sich – gleich so, wie manche Gäste die eine Gruppe verlassen, nur um sich kurz darauf der nächsten anzuschließen.
Jetzt war vom Fest nichts mehr übrig. Die Zelte waren abgebaut, der Sound abgedreht. Die Besucher schon lange zu Hause. Nichts erinnerte mehr an das turbulente Miteinander. Dieses Bild finde ich in mir wieder. Fast alle Gedanken waren nach Hause gegangen, wo immer dies auch sein mochte. Dichotomie löst nun deren ausufernde Vielfalt ab. Es scheint, als wäre nur noch ein einziger Gedanke übrig. Eine einzige Frage. Die Antwortmöglichkeiten darauf beinhalten keine Abstufungen. Übrig bleibt nur ein absolutes Ja oder Nein. Schwarz oder Weiß. Stille oder Prasseln der Tropfen. Regen oder Schnee. Ein Schritt weiter oder nicht. Meine Außenwelt erhält das Format eines Kippschalters. An, aus.
Kälte und Nässe gewinnen die Überhand
Mein Blick schwingt etwas nach rechts, wechselt vom Buchstaben D zu F. Dort sehe ich den Streckenposten, der mich im Aufstieg aufhielt.
„Please put on your rain pants.“
Ich halte das für eine Empfehlung und antworte, dass alles okay sei. „Please“, wiederholt mein Gegenüber nun deutlich bestimmter. Ich gehe ins Zelt und ziehe mich um. Auch um mein Langarmshirt werde ich gebeten. Die Pause lässt mich frieren. Also ergänze ich auch gleich noch Windjacke unter Regenjacke und Woll- unter Regenhandschuhen.
Ich gehe im Pulk der Läufer vor das Zelt. Der Regen peitscht unaufhörlich. Ich spüre das Wasser in meinen Schuhen. Die dünne Regenhose hält im Moment noch einigermaßen Stand gegen das von der Seite spritzende Wasser. Doch das Material versteift sich an einigen Stellen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass das eindringende Wasser kurz davor steht, die Schutzschicht zu überwinden. Es ist kalt. Ehrfurchtsvoll blicke ich in den schwarzen Himmel. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe erhellt die ersten Meter meines Sichtfelds und lässt die Regentropfen überproportional stark in Erscheinung treten.
Das angekündigte Schauspiel aus Blitz und Donner ist heute ausgefallen. Die Natur demonstriert ihre Dominanz mit anhaltendem Regen. Mir ist klar, dass keine Kleidung in der Lage ist, mich ausreichend vor Nässe und Kälte zu schützen. Das Beste ist, sich mit der eindringenden Nässe abzufinden.
Jede trockene Stelle an meinem Körper steht im Kontrast zu der in ihrer Nässe eine Einheit bildenden Umwelt. Schon bald würde ich in diese Homogenität eintauchen. Wahrscheinlich erlebt jeder Läufer den Prozess der eindringenden Nässe auf seine eigene Weise. Beim einen fokussiert sich die Wahrnehmung auf die Füße – das Wasser schwappt bei jedem Schritt und bahnt sich den Weg durch die Socken. Ich spüre den Wasserlauf zwischen Händen und Unterarmen. Mit jeder Armbewegung erobert das Wasser neue Stellen an Brust und Rücken. Die Nässe ist das eine, mit ihr kriecht die über Nacht einsetzende Kälte immer stärker unter meine Kleidung.
Schnee in der Nacht
Kurz werde ich während meiner Erinnerungen wieder der Fensterscheibe bewusst. Gleich wieder zieht mich deren matt glänzende Fläche in ihren Bann. Die aufgehende Sonne verändert das Grau in leuchtendes Weiß.
Die Reduktion der Komplexität erlebt kurz nach Überschreiten der 2.000-Meter-Marke ihren Höhepunkt. Auf einmal ist es still. Das unaufhörliche Prasseln des Regens verstummt, sobald dieser seinen Aggregatzustand verändert. Bald ist der Untergrund weiß vom Schnee.
Mehr als zehn Zentimeter liegen am höchsten Punkt. Der Abstieg ist rutschig. Anfangs im Schnee. Später im Matsch. Jeder Schritt ist eine Überraschung. Hält der Fuß? Oder wird er weggezogen? Wenn ja, wohin? Nach vorne, links, rechts?
Als einer der wenigen schaffe ich es – dank meiner Stöcke – sturzfrei nach Les Chapieux. Der Anstieg zum Col des Seigne gleicht einer Wiederholung. Nur oben gesellt sich nun auch starker Wind hinzu. Fehlende natürliche Schutzzonen auf dieser Höhe gewähren in meinem Gesicht beißenden Windböen Einlass. Stirn und Wangen fühlen sich taub an. Doch auch diese Passhöhe senkt sich zur anderen Seite.
Mit abfallender Höhe steigt die Temperatur wieder. Der nun anbrechende Tag verstärkt diesen Effekt zusätzlich. Stein und Fels weichen Wiesen und Bäumen. Der Gegenanstieg nach dem Lac Combal gibt den Blick frei auf das im Neuschnee glänzende Mont-Blanc-Massiv. Die Sonne setzt sich immer stärker gegen Nebel und Wolken durch. Fast kitschig wirkt die Morgenstimmung oberhalb von Courmayeur.
Blick durch den Berg
Ich öffne die Autotür. Mein Blick schweift hinauf nach Champex-Lac. Gleichzeitig versuche ich das Bergmassiv zu durchdringen. Was war dahinter passiert?
Basilia wartete in Courmayeur auf mich. Ich war erschöpft. Doch das war normal. Meine Beine vom Downhill zerstört. Humpelnd machte ich mich auf den Weg hinauf zum Rifugio Bertone. Und hustend. Meine Bronchien machten sich bemerkbar – etwas, das ich sonst nur von eisigen Wintertemperaturen kannte.
Doch ich fand zurück ins Rennen. Laufend und hikend im Wechsel komme ich über den Balkon Ferret allmählich der 100-Kilometer-Marke entgegen. Der Anstieg auf den Col ist mühsam. Trotz vieler Trainingsstunden in der Höhe fehlt mir Sauerstoff. Ich blicke zurück ins Val Ferret. Dahinter ins Val Veny. Wenige Stunden zuvor überschritt ich ganz am Ende die Grenze nach Italien. Jetzt geht es auf Schweizer Boden.
Gedanken an die Nacht im Schneesturm erinnern eher an einen Traum. Die Analyse meiner Uhr würde etwas anderes sagen. Doch im Kontrast zum langsamen Aufstieg fliege ich förmlich ins Tal. Nach einem kurzen Stopp in La Fouly weiter hinab nach Orsières. Hier verschmilzt nun Erinnerung mit Gegenwart.
Schwäne auf dem See
Ich sehe mich durch die offene Tür: euphorisch, optimistisch und wiedererstarkt, den Uphill nach Champex im Blick. Doch immer wieder pausierend. Trotz Atmung keine Luft bekommend. Wie beim Reifenaufpumpen, wenn die Pumpe nicht genau das Ventil umschließt.
Die fünfhundert Höhenmeter werden zu fünftausend. Champex, zum Greifen nahe, entfernt sich immer mehr. Ich bin verzweifelt. An alles habe ich gedacht. Jedes Risiko schon präventiv eliminiert. Und doch gibt es den „Schwarzen Schwan“. Die Metapher für nicht vorhersehbare, bislang noch nie dagewesene Zwischenfälle. Diesmal schwimmt der schwarze Schwan auf dem pittoresken See in Champex.
Basilia fährt mit mir hinauf an den See. Wenig erinnert an gestern. Die Verpflegungsstation ist geschlossen. Das Zelt, in dem ich meine Startnummer nach langem Zögern abnahm, ist abgebaut. Der Volunteer, der mir mit ebenso traurigen Augen wie den meinen die Nummer durchschnitt, abgereist. Und auch die während meiner Pause im Zelt eintretende Dunkelheit wurde vom Tageslicht verdrängt.
Ich setze mich ans Seeufer. Nehme Abschied. Für heute. Ich werde zurückkehren – besser vorbereitet, erfahrener und trotzdem der Ungewissheit potenzieller, noch nicht definierter Risiken ausgesetzt.
Ein letzter Blick auf den See. Eine Schar weißer Schwäne schwimmt auf mich zu. Sie werden mich beim nächsten Start mit ihren Schwingen über den kritischen Punkt zu den letzten drei Bergen tragen.



