Chamonix – beschauliches Bergsteigerdorf, Sehnsuchtsort von Bergsportlern aus aller Welt und Ende August für eine Woche Mekka der Trailrunning-Szene mit dem wichtigsten Event des Jahres, dem UTMB Mont Blanc.
Der Wahnsinn beginnt
Schweißgebadet und mit flauem Magen hetze ich zum dritten Mal durch dieses „Paradies“, um meinen reservierten Slot bei der Ausgabe der Startunterlagen nicht zu verpassen. Ich bin ein alter Hase in diesem Sport und doch überkommt mich wieder das beklemmende Gefühl, der strengen Ausrüstungskontrolle nicht zu genügen und im letzten Moment nicht mitspielen zu dürfen. Neben mir schwebt Eva Sperger durch den Eliteeingang der Startnummernausgabe – begleitet von Kamerateams für eine exklusive UTMB-Dokumentation. Eigentlich kenne ich Eva ganz gut und schätze sie als Mensch und Sportlerin sehr, aber ich wage es kaum, sie in dieser Situation anzusprechen und viel Erfolg zu wünschen. Zu groß erscheint in diesem Umfeld die Kluft zwischen Elitestartern und „Normalos“ wie mir. Es ist mir alles zu viel hier in dieser UTMB Woche in Chamonix. Zu viel Ego, zu viel Selbstdarstellung, zu viele Handys, GoPros und selbsternannte Superstars. Ich bin froh, als ich endlich aus dem Trubel herauskomme und meinen idyllischen Campingplatz erreiche. Auch hier erzählt mir die Wirtin, dass ihr diese Woche zu viel wird und sie froh ist, wenn der UTMB endlich vorbei ist.
Vortag
Am nächsten Tag wandern wir mit den Kindern zum Fuße des Mont-Blanc-Gletschers, beeindruckend und erschreckend zugleich, wenn man den Rückgang dieses Naturjuwels in den letzten 50 Jahren betrachtet. So unschuldig sind wir Trailrunner vermutlich auch nicht an dieser Gletscherschmelze. Weltweite Events, um sich für das Finale am Mont Blanc zu qualifizieren, High-End-Laufschuhe, die teilweise nur 200 Kilometer halten und kiloweise abgepackte Gels und Riegel als Nahrung werden nicht dazu beitragen diesen Prozess aufzuhalten.
Anschließend gilt es, meinen Support in den richtigen Bus zu setzen. Mit dem eigenen Auto oder Wohnmobil kann man nicht zu den VP’s fahren, schließlich soll die Veranstaltung nachhaltig sein. Also kaufe ich meiner Frau einen Transport-Voucher für 50 € (Kinder kosten extra), um mit den Shuttlebussen nach Trient und Vallorcine fahren zu können. Das Problem: Wir haben keine Ahnung, wo diese Busse abfahren. Wenn Veronika am nächsten Tag mit zwei kleinen Kindern an der Hand einen reibungslosen Transfer gewährleisten möchte, brauchen wir einen Masterplan. Am Infostand in Chamonix erfahren wir, wo wir den Voucher in Bändchen umtauschen können, diesen Stand erreichen wir am anderen Ende der Stadt, wo wir erfahren, welche Bushaltestellen es gibt. Die nach Trient ist wieder ein paar Kilometer entfernt (kennt jemand diesen Asterix-Band?). Das Ganze kostet uns den ganzen Nachmittag – Gott sei Dank konnten die Kinder bei Freunden auf dem Campingplatz bleiben – sonst hätte sich der Spaß in Grenzen gehalten und ich hätte wahrscheinlich meine eigene Abfahrt verpasst.
„Wenn ich das morgen hinkriege erfüllst du mir im restlichen Urlaub jeden Wunsch!?“ (Veronika)
„Stell mir frische Schuhe und eine Flask mit sieben Löffel Scratch nach Trient und du hast drei Wünsche frei!“ (Markus)
Raceday
Apropos Start: Mein Shuttle (5 Kilometer vom Campingplatz entfernt) nach Coyrmayeur verlässt Chamonix bereits um 6:00 Uhr – der Startschuss fällt erst drei Stunden später. Außer unserem Wohnmobil, das unserer vierköpfigen Familie als Homebase dient, habe ich kein eigenes Fahrzeug oder irgendwelche Hilfe vor Ort. Ich überlege mir so einiges, sogar die Option, mit dem E-Bike direkt durch den Tunnel nach Coyrmayeur zu fahren (bitte nicht machen!) und es am übernächsten Tag auf dem Weg in den Italienurlaub abzuholen, schießt mir durch den Kopf. Schließlich nimmt mich ein netter Campingnachbar aus Neuseeland mit zum Busparkplatz. Um 6.30 Uhr sitze ich also auf der anderen Seite des Mont Blanc am Start und warte mit tausenden Gleichgesinnten auf den Countdown. Durchgefroren und übermüdet hocke ich auf dem Boden und erinnere mich sehnsüchtig an Veranstaltungen, bei denen ich mich fünf Minuten vor dem Start in die erste Reihe stellen und losballern durfte.
Kurz vor dem Start reißt mir jemand versehentlich die angenähte Startnummer vom Trikot. Auf der Suche nach Sicherheitsnadeln verlasse ich den Startbereich und muss mich ganz hinten in meinem zugewiesenen Block anstellen. 1000 Starter vor mir – kein Vorankommen. Nach dem Startschuss wird es eng. Statt zu laufen, zücken die Leute vor mir erst einmal ihre Handys und GoPros, um sich und ihren persönlichen Start zu filmen. …. Trotzdem versuche ich mich auf den ersten vier Kilometern über links und rechts ausweichende Bürgersteige an das etwas ambitioniertere Feld heranzukämpfen, wohl wissend, dass danach ein Singletrail mit 1400 Höhenmetern am Stück folgt, auf dem man kaum überholen kann. Das kostet Zeit, Kraft und Nerven. Doch irgendwann finde ich meinen Rhythmus und genieße den CCC. Flowige Trails, jubelnde Menschen und wunderschöne Landschaften erwarten mich bis kurz vor La Fouly. Die Hitze, das Tempo und die Strecke sind anspruchsvoll und ab Kilometer 45 wird es zum ersten Mal hart. Die 15km nach Champex-Lac sehen vom Höhenprofil her wie ein Klacks aus, aber der anspruchsvolle Untergrund, die Gluthitze und der Marathon in den Beinen fordern den ganzen Ultraläufer in mir.
Meiner Meinung nach wird der UTMB zu Unrecht als wenig technische Strecke bezeichnet. Klar gibt es keine ausgesetzten Stellen, keine Kletterpassagen oder Gletscherquerungen, aber der Untergrund ist Abwechslungsreich, erfordert jede Sekunde höchste Konzentration und gerade im letzten Drittel empfinde ich weite Teile der Strecke als extrem anspruchsvoll. Über eine Distanz von 100 Kilometern und für viele Teilnehmer teilweise bei Nacht bräuchte ich es keinen Tick technischer.
Familienzeit
Mein Highlight bei Kilometer 71 in Trient. Zwei strahlende Kinder erwarten mich am Eingang der VP, laufen mit mir ein, herzen mich, umarmen mich und lassen mich hochleben. Veronika hat es wirklich geschafft und das UTMB Transportsystem durchschaut. Mental ist es schwierig. Wie einfach wäre es an dieser Stelle abzubrechen und mit meiner Familie in den Bus nach Hause zu steigen. Die Kinder möchten mit Ein- und Auslaufen und mir von ihren bisherigen Erlebnissen erzählen. Ich nehme mir Zeit – auf 10 Minuten hin oder her kommt es nach dem Startdebakel eh nicht an – und genieße den Moment. In Vallorcine dasselbe Spiel – hier fällt mir das Weiterlaufen noch schwerer. Die Verantwortlichen lotsen uns nach der VP auch noch in die falsche Richtung und meine Kids und ich laufen eine „Ehrenrunde“ durch das schöne Örtchen. „101 oder 102 Kilometer ist egal“ könnte man meinen – an dieser Stelle tat mir der Zusatzkilometer aber schon weh, ist ärgerlich und darf bei dieser Topveranstaltung nicht passieren.
Es warten noch 18 Kilometer und 900 Höhenmeter, die ich in üblicher Manier mit viel Willenskraft, bei Dunkelheit und mit einem gebrochenen Stock hinter mich bringe. In Chamonix weiß ich warum ich mir das noch einmal antun wollte und wieso jeder ambitionierte Trailrunner einmal diesen Torbogen sehen sollte: Der Zieleinlauf ist einfach magisch! Mein Sohn Paul erwartet mich kurz vor der Ziellinie und wir laufen bei ohrenbetäubenden Anfeuerungsrufen gemeinsam ein. Wunderschön und beeindruckend für uns beide. Emil ist leider kurz vorher in den Armen seiner Mama etwa 20 Meter neben der Ziellinie eingeschlafen.
Auf dem Heimweg versagt wieder einmal das hochgelobte UTMB-Transportsystem. Ein Taxi (150 € für vier Kilometer) unerschwinglich, warten wir geschlagene 90 Minuten auf den Nachtbus, der uns um 20 € erleichtert und um 00:30 Uhr endlich zurück zum Campingplatz bringt.
Was nun?
Am Ende stehen 102 Kilometer, knapp über 6000 Höhenmeter und 13:20 Stunden auf der Uhr. Das bedeutet den dritten Platz in meiner Kategorie und ich stehe am nächsten Tag glücklich und zufrieden neben all den Stars auf dem Podium der CCC Ceremony. Natürlich weiß ich selbst, dass das keine sportliche Höchstleistung war und ich mit dieser Leistung weit hinter der internationalen Spitze lief. Klar stellt man sich die Frage, wie viel noch drin gewesen wäre mit einem Startplatz weiter vorne im Feld, einer professionelleren und zügigeren Verpflegung, ohne Extrarunde und mit dem letzten Punch der mir so weit entfernt von den Spitzenplätzen einfach fehlte? Mein Resümee: Ich bin stolz auf meine Leistung und den Podiumsplatz – den CCC bei dieser Hitze muss man erstmal durchdrücken.
Meine Bilanz: Drei Starts beim UTMB (1 x OCC, 2 x CCC), 3 Zieleinläufe, 2 x Podestplatz in meiner Kategorie. Mehr ist für mich nicht drin in Chamonix und ich werde auch nicht mehr am UTMB teilnehmen. Wobei, Paul (8 Jahre) hat bereits angekündigt, dass er hier unbedingt einmal mitrennen möchte. Veronika hat sofort ihr Veto eingelegt („100km läufst du mir auf keinen Fall!“) und wir haben uns vorerst auf einen Kompromiss geeinigt. YCC 2034 – diesmal mit mir als Support 😉
Danke, für den schönen und authentischen Bericht!
Danke Jürgen 🙂