Der Regen hat gerade aufgehört, als ich es mir auf dem Asphalt des Place Triangle de l’Amitié bequem mache. Ich bin eine der ersten. Außer dem Zielbogen deutet noch nicht viel darauf hin, dass hier gleich 2.300 Läufer ihre Reise um den Mont Blanc beginnen werden. Zweieinhalb Stunden werde ich hier zunächst sitzen, dann stehen, irgendwann stampfen und klatschen, um endlich um 18 Uhr mit Fullspeed loszurennen. Ein bisschen beneide ich die Elite-Läufer, die erst kurz vor Start in ihren Block müssen. Dieses Jahr fehlen 17 Score-Punkte. Das System kennt keine Ausnahmen. Ich sehe es positiv. Ich bin von Anfang an auf dieser Party im Herzen Chamonix. Ich erlebe die Emotionen der Athleten um mich herum. Viele singuläre Emotionen, die sich sukzessive zum dopamingedränkten UTMB-Feeling vereinigen. 2.300 Athleten, die sich monatelang, teils jahrelang auf diesen Tag vorbereitet haben. Millionen von Muskelfasern, die nur darauf warten, um 18 Uhr zu kontrahieren und ihren zugehörigen Körper in Bewegung zu setzen. Teil dieses Movements zu sein, erfüllt mich mit Stolz. Ein langer Weg – 171,5 Kilometer mit 10.000 Höhenmetern – liegt vor mir. Doch es war ein noch längerer Weg hierher zurück.
Der Blick zurück
2017 war ich zum ersten Mal hier und überraschte mich und alle anderen mit Platz 13. Das Jahr darauf stoppte mich kurz vorher eine Knieoperation. 2019 lief bis zur Hälfte alles perfekt, bis ich verletzungsbedingt in La Fouly aussteigen musste. 2020 fiel der UTMB der Pandemie zum Opfer. 2021 wechselte ich auf die TDS-Strecke und konnte in den Top Ten finishen. Fünf Jahre sind nun vergangen. Und heute bin ich zurück. Mein Coming Home. Viele Erfahrungen konnte ich in dieser Zeit sammeln. Vor einigen Wochen wanderte ich zusammen mit Michael die Strecke bis Trient ab. Die restliche Strecke ließ meine Erkältung dann nicht mehr zu. Zumindest kenne ich nun die Etappen der ersten Nacht auch bei Tag und weiß genau, was mich erwartet.
Der Lauf nach vorne
Das Tempo ist viel zu hoch. Ich versuche, halbwegs kontrolliert zu laufen. Nach den ersten Kilometern durch Chamonix geht es wellig am Fluss dahin. In Les Houches wartet der erste Anstieg. Noch immer stehen Menschenscharen an der Strecke und feuern uns an. Nach dem Downhill nach Saint Gervais nimmt der Trubel noch einmal zu. Nun geht es moderat ansteigend hinauf nach Les Contamines. Es dämmert und ich schalte meine Stirnlampe an. Ein Schockmoment. Sie streikt. Ich muss auf meine Reservelampe wechseln. In Contamines wartet Michael an der ersten großen Servicestation. Wir tauschen Getränke aus. Er hat nur eine schwache Lampe dabei. Die würde mir auf den kommenden, technischen Trails nur wenig helfen. Ich laufe mit meiner Ausrüstung weiter. Michael ruft mir noch zu, knapp hinter Top 30, aber super dabei. Das Feld ist mega besetzt. Und das Rennen noch lang. Ich habe noch Zeit, mich nach vorne zu arbeiten.
In die einsame Nacht
Bevor es in die Berge geht, erwartet uns in Notre Dame de La Gorge ein farbiger Lichttunnel. Danach ist es dunkel. Und wird zunehmend einsamer. Das Läuferfeld zieht sich auseinander. Am Wegesrand stehen noch bis La Balme Menschen, danach nicht mehr viele. Ich versuche den Akku meiner Stirnlampe zu sparen und Licht von Mitläufern zu bekommen. Mein Horizont beschränkt sich auf die wenigen beleuchteten Meter im Lichtkegel unserer Lampen. Zwei Pässe trennen mich vom nächsten großen Servicepunkt in Courmayeur. Der Col du Bonhomme und der Col de Seigne. Ich erinnere mich an die Wanderung im Juli. An die Aussicht auf die nächsten Gebirgszüge. Schroffe Gipfelformationen, imposante Gletscher, liebliche Täler. All das ist heute hinter dem Schwarz der Nacht verborgen. Der Downhill nach Courmayeur ist ein guter Indikator für die Zerstörung der Oberschenkelmuskulatur. Ich bin knapp hinter meiner Zwischenzeit von 2021, aber den Beinen geht es deutlich besser. In der Sporthalle ist es nur ein kurzes Wiedersehen mit Michael. Ich mache mich gleich wieder auf den Weg hinauf zum Refuge Bertone und weiter ins Val Ferret.
Erinnerungen im Val Ferret
In Arnouvaz kommen viele Erinnerungen hoch. 2017 habe ich vergessen zu essen und mir war schwindlig. Die Streckenposten zwangen mich zum Essen und ich fand wieder zurück ins Rennen. 2019 kündigten sich hier meine Knieschmerzen an, die über den Col Ferret immer schlimmer wurden und schließlich das Laufen unmöglich machten. Und bei unserer Wanderung im Juli saß ich am späten Nachmittag am Flußufer. Michael wollte mich wegen meiner Erkältung mit dem Bus zurück nach Courmayeur schicken. Doch ich marschierte weiter, bis ich im Dunkeln in La Fouly ankam. Und durch die Nacht weiter nach Champex Lac. Und im Morgengrauen über La Giete nach Trient. Zum Glück geht es mir heute gut. Trotz der zunehmenden Erschöpfung kann ich den Lauf noch immer genießen. Ich mache weiter Plätze gut. In Champex Lac bin ich in den Top 15. Auch hier mache ich nur kurz Pause und laufe bei Sonnenschein am idyllischen See vorbei. Bergauf kann ich weiter Zeit gut machen, doch bergab hinunter nach Trient wird es zunehmend beschwerlich. Humpelnd erreiche ich das Servicezelt hinter der rosafarbenen Kirche. Meine Stimmung ist schlecht. Ich kann kaum essen. Nur einen halben Riegel und ein paar Bissen Brot.
Das letzte Drittel
Der vorletzte Berg über Catogne nach Vallorcine war für mich nur noch im Kampfmodus machbar. Zumindest war es noch hell, als ich im letzten Servicezelt ankam. Michael überrascht mich. Meine Freundin Ildiko, die erst vor wenigen Tagen unter schwierigen Bedingungen auf das TDS-Podium gelaufen ist, hatte Kartoffeln für mich gekocht. Sie wusste genau, was mein Körper brauchte und auch vertragen konnte. Ich fasste neuen Mut und lief langsam, aber beständig zum Col de Montets, stapfte hinauf zum Tete aux Vents und wieder abwärts nach La Flegere. Das technische Gelände forderte meine zerstörten Beine maximal heraus. Und der finale Downhill hinunter nach Chamonix wurde zur Qual. Doch irgendwann nahm auch dieser Trail ein Ende und ich erreichte Chamonix. In einem Moment der Unachtsamkeit, wenige hundert Meter vor dem Ziel verlor ich die Orientierung über die Streckenführung. Genau in dem Moment, indem Hillary Allen scheinbar aus dem Nichts von hinten auf mich aufgelaufen kam. So musste ich mich auf der Zielgeraden noch mit Platz 15 zufrieden geben. Die Zeit von 29:10h war aufgrund der längeren Strecke mehr als eineinhalb Stunden besser als meine Zielzeit aus 2017. Und meine Stimmung verbesserte sich auch sofort, als ich erfuhr, dass ich auf Platz 3 meiner Altersklasse gelaufen war. Nach einer kurzen Nacht stand ich mit vielen Top-Athleten bei strahlendem Sonnenschein auf der Bühne. Es gab also ein Happy End bei meinem Coming Home. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich freue mich schon, nächstes Jahr wieder ein neues Kapitel in mein UTMB-Buch zu schreiben.