Wenn Ultraläufer über das Laufen sprechen, begeben sie sich auf dünnes Eis. Was sie für normal halten, halten andere Menschen, die alle zwei Wochen einen lockeren 5-Kilometer-Lauf im Park traben, für völlig irrsinnig oder schlichtweg unmöglich. Was motiviert Trail- und Ultraläufer? Dr. Carl Morriss hat dies mit einer großangelegten wissenschaftlichen Studie erforscht: dem Ultra Trail Project. Wir haben mit Carl über die Ergebnisse der Studie gesprochen.
Wir alle wissen eine Menge über Trailrunning, Ultrarunning und die dazugehörige Gemeinschaft, oder? Aber was wissen wir wirklich – und was sind nur subjektive Eindrücke? Was ist anekdotisches „Wissen“ und was sind wissenschaftliche Fakten wenn es um „die Trailrunner“, ihre Kultur und ihre Gewohnheiten als Gruppe geht?
Carl Morris von der University of Central Lancashire wollte diese Fakten liefern. Er startete eine umfangreiche Studie nach wissenschaftlichen Standards für Läufer*innen aus den USA und Großbritannien: das Ultra Trail Projekt. Er erhielt mehr als tausend Antworten und führte Dutzende von Interviews, um mehr über die Motivationen, die Hintergründe, die Hoffnungen und Ängste von Trail- und Ultraläufer*innen zu erfahren. So wissen nun, dass Läufer*innen durchschnittlich etwa 50 Kilometer pro Woche laufen und fünf Paar Laufschuhe besitzen. Aber das ist nur Partywissen. Was die wahren Erkenntnisse sind, erklärt Carl in seinem Interview mit XC-RUN.de.
Carl, die Umfrage lief über einen Zeitraum von sechs Monaten, von April bis September 2022, und es gingen mehr als 1.000 Antworten ein – überwiegend aus den USA und Großbritannien. Was genau wolltest du herausfinden?
Wir haben an der Basis angefangen und wollten die Community in einem möglichst breiten Sinne verstehen. Deshalb wollten wir:
- eine gute Basis demografischer Daten erstellen, um herauszufinden, wer die Trail- und Ultraläufer*innen eigentlich sind. Als Laufende haben wir alle unser eigenes anekdotisches Gefühl dafür, wie die Community aussieht, aber es gibt kaum verlässliche Daten.
- verstehen, wie sich Läufer*innen mit dem Sport beschäftigen. Das beinhaltet Fragen zu Training, Wettkämpfen, Medienkonsum, Freiwilligenarbeit, sowie Werte in Bezug auf den Sport und persönliche Motivationen.
Eine solche Studie wurde noch nie zuvor gemacht.
Die Trailrunning- und Ultralaufszene befindet sich seit Jahren im Wandel. Der Markt wächst massiv, die Veranstaltungen werden professioneller, Live-Übertragungen werden Standard und Marken investieren viel Geld. Wie reagiert die Community auf diese Entwicklungen?
Das ist eine komplizierte Frage, aber die Studie zeigt einige faszinierende Punkte auf – zum Beispiel, dass der Sport immer noch ziemlich fragmentiert ist. So wurde beispielsweise der UTMB als das „inspirierendste Rennen“ bezeichnet, was jedoch nur etwa 10-15 % der Befragten angaben. Insgesamt gab es rund 200 verschiedene Rennen, die von den Teilnehmenden als Antwort auf diese Frage genannt wurden. Ähnlich verhält es sich mit den Medien: Es gab eine Handvoll beliebter Medien, aber insgesamt wurden fast 300 Medienbeispiele gebracht. Gleiches bei „inspirierende Sportler*innen“: Auf diese Frage gab es rund 200 Nennungen. Dies alles deutet darauf hin, dass der Sport trotz der ganzen Diskussion über Monopole und Professionalisierung noch immer eine starke Heterogenität aufweist.
Die Befragten scheinen auch mit der Kommerzialisierung des Sports im Großen und Ganzen einverstanden zu sein. So sind beispielsweise nur 1,5 % der Befragten gegen Gehälter und Sponsoring für Spitzensportler*innen. Es gibt viele Nuancen in diesen Ansichten – und das ist etwas, das wir mit weiteren Untersuchungen erforschen wollen – aber die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass die meisten Trail- und Ultraläufer*innen mit der Entwicklung des Sports zufrieden sind.
Ist Trail- und Ultrarunning denn noch ein Untergrundphänomen oder ist er bereits auf dem großen Markt der etablierten Sportarten angekommen?
Im Moment würde ich sagen, dass sich der Sport in einem feinen Gleichgewicht zwischen Underground und Mainstream befindet, ähnlich wie Skateboarding Mitte der 1990er oder Klettern Anfang bis Mitte der 2000er. Wie bei all diesen Dingen muss man sich nur ansehen, was die großen Sport- und Modeunternehmen tun. Es ist bezeichnend, dass z. B. die Lifestyle-Marke Lululemon in den letzten Jahren in den Trailrunning-Markt eingestiegen ist, einschließlich eines kürzlich abgeschlossenen Sponsoringvertrags für Camille Heron. Dies deutet darauf hin, dass Trailrunning eine kulturelle Wirkung hat, die über eine kleine Gruppe von Engagierten hinausgeht und stattdessen bei einer eher lockeren Gruppe von Laufenden und Outdoor-Enthusiasten zum Mainstream wird.
„Ich rechne fest damit, dass der „Trail-Chic“ in den nächsten Jahren ein ähnliches Phänomen sein wird wie die Yoga-Mode im letzten Jahrzehnt.“
Es gibt auch ein massives Wachstum in der Sub-Ultra-Welt des Trailrunnings, mit weniger wettbewerbsorientierten Veranstaltungen im „Fun Run“-Stil, die überall aus dem Boden schießen. Hier muss noch mehr geforscht werden, aber diese Veranstaltungen scheinen Gelegenheitsstraßenläufer*innen anzusprechen, die mal etwas anderes ausprobieren wollen. Höchstwahrscheinlich werden wir mit der Zeit eine Annäherung und Überschneidung zwischen dem Massenmarkt des Straßenlaufs und dem, was bisher eine Subkultur des Trail- und Ultralaufs war, erleben.
Mit Blick auf die Zukunft wird sich der Sport aber definitiv verändern und mehr zum Mainstream werden.
Obwohl Geld ein immer wichtigerer Faktor in unserem Sport wird, ist es für Medien schwierig, davon zu profitieren. Bezahlte Magazine oder on-demand Videos sind kaum attraktiv, wie die Studie ergab. Warum ist das so? Der durchschnittliche Läufer hat ein hohes Einkommen und eine starke Identifikation mit dem Sport – wie ihr herausgefunden habt.
Läufer*innen konsumieren viele digitalen Medien – allerdings handelt es sich dabei meist um „kostenlose“ YouTube-Videos, Podcasts und Websites. Warum sollte jemand zum Beispiel ein Zeitschriftenabo abschließen, wenn es ähnliche Inhalte kostenlos im Internet gibt? Die Trail- und Ultralauf-Medien reagieren darauf auf unterschiedliche Weise. Im Moment scheint es drei Formen zu geben.
- Große Multi-Media-Abo-Pakete
- Der Versuch, eine treue Community aufzubauen, die bereit ist, sich für Medieninhalte anzumelden, und die dann auch mit anderen Funktionen verbunden ist, wie z. B. Trainingsplänen, Discord-Gruppen usw.
- Medien, die zum Zeitpunkt der Nutzung kostenlos sind, aber Werbung verschiedener Art beinhalten.
Es gibt also schon kommerzielle Modelle für Medien. Aber einfach ist das nicht und es bedarf einer gehörigen Portion Kreativität.
Für viele Laufende haben der Aufenthalt in der Natur und das Laufen für und mit sich selbst eine therapeutische Wirkung. Die Umfrage scheint diesen Eindruck zu bestätigen, denn mehr Läufer*innen fühlen sich mental gesund und ausgeglichen als der Durchschnitt in den USA und im Vereinigten Königreich. Stimmst du dem zu – und können wir aus den Daten ableiten, dass das Laufen in der Natur tatsächlich gut für uns ist?
Ja, absolut! In vielerlei Hinsicht hätten wir diese Frage gar nicht stellen müssen – jeder, der in der Natur läuft, weiß genau, wie und warum sich das positiv auf unsere geistige Gesundheit auswirkt. Aber wir wollten herausfinden, wie wichtig diese Eigenschaft des Trailrunning im Vergleich zu anderen Beweggründen für das Laufen ist, wie etwa Fitness oder Wettkampf. Die Tatsache, dass der Nutzen für die psychische Gesundheit ganz oben auf der Motivationsliste steht, bestätigt etwas, was wir bisher nur anekdotisch wussten.
„Die Kunst besteht nun darin, diese Erkenntnis zu nutzen und herauszufinden, ob Trailrunning auch Menschen zugänglich gemacht werden kann, die das noch nicht machen, z. B. als therapeutische Maßnahme für Menschen mit Problemen wie Angst, Depression oder Trauma.“
Gab es Ergebnisse der Studie die dich nervös oder besorgt gemacht haben?
Das wohl eklatanteste Problem ist die mangelnde Vielfalt im Sport. Das sieht man am Start fast jeden Rennens. Es gab auch keinen einzigen schwarzen/afrikanisch-amerikanischen/schwarzen britischen Teilnehmer an der Umfrage. Nicht einen einzigen! Da muss noch einiges passieren.
Obwohl es nicht direkt mit der Umfrage zusammenhängt, habe ich noch eine andere Sorge, nämlich das Wachstum des Sports. Es ist fantastisch, dass immer mehr Menschen mitmachen, aber es wäre schade, wenn er zu sehr zum Mainstream wird und möglicherweise den subkulturellen, leicht anarchischen Geist verliert, der traditionell ein Merkmal des Sports ist.
„Das ist die Herausforderung: neue Leute einzuladen, aber gleichzeitig zu bewahren, was den Sport so besonders macht.“
Wird die Datenerhebung auch in Zukunft fortgesetzt, und wird es eine Möglichkeit geben, Daten aus dem deutschsprachigen Raum einzubeziehen?
Ja. Wir hoffen, die Umfrage alle zwei Jahre durchführen zu können, so dass wir Veränderungen im Laufe der Zeit verfolgen können, aber auch neue und interessante Fragen hinzufügen können, wenn sich der Sport weiterentwickelt. Unser Plan ist es auch, in Europa zu arbeiten und einen Weg zu finden, die Umfrage in anderen Sprachen, inklusive Deutsch, zugänglich zu machen. Ihr werdet es auf XC-RUN.de erfahren!
Du planst auch eine Buchveröffentlichung. Kannst du uns schon einen kurzen Überblick über den Inhalt und den Veröffentlichungsplan geben?
Ich schreibe gerade an einem Buch, das die Geschichte des Trail- und Ultralaufs vom 19. Jahrhundert bis zum modernen Sport beleuchtet. Ungefähr zwei Drittel des Buches werden sich mit dieser Geschichte befassen und das letzte Drittel mit dem modernen Sport. Ich möchte eine ganze Reihe von Themen untersuchen, z. B. Profi- und Amateursport, kommerzielle und wirtschaftliche Aspekte, sowie die Vielfalt innerhalb des Sports.
Du bist Dozent für Religion, Kultur und Gesellschaft an der School of Humanities, Language & Global Studies der University of Central Lancashire. Und du bist selbst ein begeisterter Läufer. Was waren deine bisherigen Lauf-Highlights und gibt es Pläne für 2023?
Zu meinen Lauf-Highlights gehören der Versuch, allein die Bob-Graham-Runde zu laufen, und die Winter Spine Challenge Anfang dieses Jahres. Ich mag lange Läufe über technisches Terrain, meist bei miserablen Verhältnissen. In diesem Jahr nehme ich am 100-Meilen-Ultra-Trail Snowdonia teil und hoffe, mich in den nächsten ein oder zwei Jahren über die Lotterie für den UTMB zu qualifizieren – ein Rennen in den Alpen steht im Moment definitiv ganz oben auf der Liste meiner Laufziele.
(Die komplette Studie, ihr Design und vor allem ihre Ergebnisse findet ihr hier.)