Schnelligkeit beginnt im Hirn: Interview mit Lars Lienhard über neurozentriertes Training

Gina Lückenkemper beim neurozentriertem Training mit Lars Lienhard. © www.lienhard-neuroathletik.com

Trailrunner sind auch nur Läufer. Ist das nicht so? Und Läufer sind auch nur Sportler. Sportler sind auch nur Menschen. Tja und irgendwie liegt es in unserer Natur, dass wir immer höher, schneller und weiter hinaus wollen. Oder ist dies einfach nur evolutionsbedingt? Wir sind Jäger und Sammler und um unsere Familie zu ernähren, ist Schnelligkeit einfach von enormer Wichtigkeit. In der heutigen Zeit ist das Überleben aber grundlegend gesichert und schnell müssen wir nur noch sein, wenn im Discounter vermeintliche Angebote zu ergattern sind oder wenn wir Trailrunner uns einen limitierten Startplatz sichern wollen.

Wie werde ich zum schnelleren Läufer?

Schnelligkeit im Laufsport bedeutet ein gewisses Optimieren unserer mehr oder weniger vorhandenen Fähigkeit, unsere Beine im Laufschritt zu bewegen und zielgerichtet voreinander zu setzen. Doch unsere Bereitschaft zum effizienten Trainieren basiert auf Fleiß und Motivation. Manche von uns benötigen extrinsische Motivation, d.h. der innere Schweinehund kann nur durch äußere Einflüsse von der Couch bewegt werden. Idealerweise gepusht durch einen Trainer, der uns sagt, was wir machen sollen. Andere kommen mit einem persönlich formulierten Ziel gut klar, reißen sich am Riemen und trainieren eigenständig auf einen bestimmten Wettkampf hin. Natürlich mit ausgiebiger Recherche.

Egal wie wir es drehen und wenden, um Training kommen wir nicht drum herum. Deshalb sind wir auf der Suche nach immer neuen Ansätzen, Ideen und Möglichkeiten, um unsere Leistung zu steigern und uns bis auf die selbst auferlegte Spitze zu trimmen.

Wie in jeder anderen Sportart wird auch Trailrunning durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Sei es durch interne Einflüsse wie VO2max, Laktatschwelle oder technische Fähigkeiten. Oder aber durch externe Einflüsse wie Untergrund, Distanz und Höhenmeter. Diese sind schon spezieller und machen unseren Sport zu dem, was er ist.

Trailrunning-Untergrund ist oft wurzelig, verblockt, matschig, lose und abseits befestigter Wege. Die Distanz kann von einem kurzen, knackigen Bergsprint bis hin zum Ultra über 100 km und mehr gehen. Höhenmeter sind hier fast obligatorisch. Also viel, an dem wir arbeiten können.

Was ist neurozentrierte Training?

Zum Beispiel ich persönlich. Ich liebe es, bergauf zu laufen. Meinen Atem zu hören und einen gewissen Flow zu entwickeln. Meditativ hoch, ohne nachzudenken. Doch geht es bergab, steil und verblockt, habe ich eine gewisse Blockade im Kopf. Ich kann es nicht richtig laufen lassen. Was passiert, wenn ich falsch auftrete, stürze, alleine im Wald liege? Kein Empfang und niemand dabei, der helfen könnte. Mehr Sicherheit, bewusst und unterbewusst würde mir guttun. Sicherheit beim Auftreten, ein gutes Balancegefühl und somit Laufgefühl entwickeln. Mentaltraining wäre hier eine Sache, doch eine andere, die mir ebenso sinnvoll wie interessant erscheint, ist das neurozentrierte Training. Beides hat etwas mit unserem Gehirn zu tun. Doch sind es komplett unterschiedliche Ansätze.

Schlagwörter der Neuroathlethik sind: Balance, Auge-Hand-Koordination (bei uns eher Auge-Fuß-Koordination), oder Synapsenverbindung. Schnell reagieren bedeutet Trittsicherheit und Schnelligkeit im Downhill.

Beschäftigt man sich mehr mit dieser Thematik, kommt man nicht um den Namensgeber dieser Trainingsform herum. Lars Lienhard. Er hat diesen Ansatz geprägt wie kein anderer. Auf Basis seiner Arbeit und medialen Präsenz hat das neurozentrierte Training Einzug gefunden in viele Formen des sportlichen Trainings und Gesundheitswesens. Lars Lienhard ist ehemaliger Leistungssportler, führt ein Neuroathletik-Ausbildungsinstitut, arbeitet als Trainer, Berater und Ausbilder im Spitzensport und hat bereits zahlreiche Athleten auf olympische Spiele und Weltmeisterschaften vorbereitet, z. B. 2014 als Trainer bei der FIFA Fußballweltmeisterschaft in Brasilien und 2016 bei den olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro.

Doch was genau ist NAT? Wie funktioniert es? Lars Lienhard steht für xc-run.de Rede und Antwort.

Interview mit Lars Lienhard zum Thema NAT

© Nils Schwarz

Eine obligatorische Frage zuerst: Was ist Neuroathletiktraining, kurz NAT?

Ja, aber dennoch eine gute Frage, denn das Wort ist ja anfangs schon relativ irritierend. Die Wortschöpfung ist folgende: Athletiktraining beschäftigt sich damit, die physischen Aspekte eines Athleten auf die Wettkampfsituation vorzubereiten. Wir wissen ziemlich genau, welche körperlichen Anforderungen sportartspezifisch erforderlich sind. Aber es gibt halt nicht nur physische Anforderungen, also was der Muskel, das Muskelschlingensystem können muss. Es gibt auch Anforderungen von einer Bewegung, einer bestimmten Sportart an die bewegungssteuernden Systeme. Welche Infos braucht das Gehirn, um die Bewegungsaufgabe optimal zu lösen? Das heißt, was müssen die Augen können, was das Gleichgewicht können? Welche Gehirnareale integrieren diese ganzen Informationen und steuern den Körper dann? Neuroathlethiktraining rückt die neuronalen Aspekte in den Vordergrund, damit das Gehirn die Anforderungen in einer Wettkampfsituation regeln kann. Ganz alltäglich heißt das z. B.: Was müssen die Augen im Laufen erkennen, wenn der Boden ziemlich uneben ist? Wie muss das Gehirn unter diesen Aspekten den Körper steuern? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns beim neuroathletischen Training.

NAT in drei Worten.  

Wenn ich mich entscheiden muss: Software, Bewegungssteuerung und Vorhersehbarkeit.

Sie haben den Ansatz des NAT bereits 2010 ins Leben gerufen. Wir haben das Gefühl, das Interesse an dieser Thematik flammt wieder auf und ist aktueller denn je. Empfinden Sie das ebenso? Vor allem im Bereich des Breitensports?

Oh ja, das sehe ich genauso. Im Breitensport viel mehr als im Leistungssport ehrlich gesagt, denn die Sportler mit denen ich arbeite haben ja schon ziemlich gute bewegungssteuernde Systeme, sonst wären sie nicht Weltelite oder würden Hochleistungssport über Jahre betreiben können. Aber guckt man sich den Breitensport, Rehasport oder den Bereich der Therapie an, merkt man, dass die Leute hier viel mehr Probleme mit ihren bewegungssteuernden Komponenten haben. Das Gehirn hat Schwierigkeiten, sensorische Informationen zu integrieren und gute Bewegungspläne zu erstellen. Das Thema gehört in die Breite. Zur Unterstützung physiotherapeutischer Maßnahmen oder präventiver Maßnahmen etc. Aufgrund meiner Ausbildung im Altensport habe ich immer diese Blickrichtung gehabt: wie wirken die Sinne auf unsere Leistungsfähigkeit.

Sie können auf eine lange sportliche Laufbahn zurückblicken, sowohl privat als auch im Training mit Spitzensportlern. Haben Sie schon Erfahrung mit de speziellen Spezies der Trailrunner gemacht?

Nein, ich habe mich zwar mit dem Thema beschäftigt, weil ich bei der aktuellen ISPO Vorträge gehalten habe über: „Wie kann man das Gehirn nutzen, um im Trailrunning besser zu werden“.

Im Vorfeld habe ich auch mit den Hahner-Zwillingen gearbeitet, die aber danach erst in den Trail-Bereich eingestiegen sind. Bisher habe ich noch keine Zusammenarbeit mit einem einzelnen Trailrun-Athleten über lange Zeit gehabt. Mit den Anforderungen jedoch habe ich mich in der Theorie auseinandergesetzt.

Welche Möglichkeiten haben wir, um an unserer Schnelligkeit und Technik zu feilen? Vor allem im Downhill?

Wir schauen erst mal, welche Hirnareale verantwortlich sind, wenn ein längerer Bremsweg erscheint. Das Gehirn hat verschiedene Bewegungskoordinationssysteme, die bei verschiedenen Bewegungskorrekturanforderungen einspringen. Wir haben einen Trakt vom Gehirn zum Kleinhirn, der stark aktiv wird, wenn wir exzentrisch arbeiten. Und wir gehen genau da hin, wo wir gebraucht werden. Das heißt, wenn wir die richtigen Kerngebiete aktivieren, hat das Gehirn mehr Kontrolle bei exzentrischen Bewegungen. Lauftechnikschulung muss man so oder so machen, aber wir schauen, was für das Gehirn wichtig ist, um sich sicher zu fühlen. Das ist schon einmal Punkt eins.

Punkt zwei ist die Regulierung des Körperschwerpunktes über der Unterstützungsfläche. Also letztendlich Balance. Wir haben ständig andere Fußaufsätze. Der Schwerpunkt kommt mal von außen, mal von vorne, mal von der Seite. Wir haben eine gewisse Unvorhersehbarkeit, was passieren wird – Kurven, Nebel usw. Wenn ich gut sein will, sind zwei Komponenten davon sehr wichtig. Zum einen das Repositionieren des Körperschwerpunktes über der Unterstützungsfläche über unser Gelenksystem. Dann brauche ich Gelenkkontrollübungen, die dem Hirn viel Sicherheit geben. Der zweite Aspekt ist das Gleichgewichtssystem. Also das, was uns gegen die Schwerkraft ausrichtet.

Also grob zwei verschiedene Systeme. Eins das den Kopf reguliert und eins das den Körper reguliert. Zusammenfassend spreche ich von exzentrischer Kontrolle, Gelenkkontrolle und Gleichgewicht. Damit kann man unabhängig von der Technik, das Gehirn des Trailrunners in die Lage versetzen, sich mehr Speed zu erlauben. Also kein Austricksen, sondern Sicherheit geben.

Auch ein spannender Punkt ist die Auge-Bein-Koordination. Das visuelle System ist im Trailrunning noch viel wichtiger als bei einem Straßenmarathon. Der Boden wird permanent gescannt, vor allem bergab. Ich habe verschiedene Untergründe, ich habe Geröll, ich habe Sand, ich habe Wurzeln. Das heißt, es ist extrem wichtig, bei hoher Ermüdung und exzentrischer Belastung den Fuß noch adäquat zu setzen. Das Training der Augen mit der Position nach unten würde also hier viel Sinn machen.

NAT im Alltag, ist dies einfach umsetzbar?

Ja, am besten, indem wir unsere Sinne schulen. Hier muss man erst einmal individuell schauen und testen. Ist es das linke Bein, das mehr Stabilität und Kontrolle im Sprunggelenk braucht oder das Knie? Aber sobald man anfängt, das Gleichgewicht ins Training zu integrieren, ist schon mal vieles gewonnen. Und das sind ganz klassische Basisübungen, die man mittlerweile ja auf sämtlichen medialen Kanälen findet. Aber wer macht schon exzessiv drei Monate bewusst Lauftraining? Also nicht nur Laufen, sondern auch Lauf ABC und dies auch gezielt und individuell? Solche Sachen sollten wieder mehr in den Fokus rücken.

Wie schnell sind Erfolge sichtbar?

Effekte sind sehr schnell erkennbar, weil das Nervensystem das schnellst-reagierende System im Organismus ist. Viel schneller als das physiologische Adaptationsprinzip der Muskelfasern. Nachhaltigkeit ist das Problem. Diese kommt nur durch Training. Deswegen heißt es ja auch Neuroathletiktraining. Wenn ich ein System aufbaue, muss ich auch darauf Zeit verwenden und langfristig trainieren. Sobald ich ein System ansteuere, wird es besser. Ich muss nur anfangen. Strukturiert und nicht willkürlich, und auch immer wieder testen zwischendurch. Idealerweise mit einem Trainer. Aber im Breitensport gerne und gut natürlich auch mit Eigeninitiative. Es gibt aber keine Wunderpille, keine Zauberübung in der NAT. Wir brauchen die Bereitschaft dazu und Ausdauer.

Wenn man tagtäglich mit Sportlern zu tun hat, hat man dann selbst noch Lust am Sport, wenn ja welchen?

zögern….Ja, aber es gibt tatsächlich Phasen in meinem Leben, wo ich wirklich keine Motivation mehr habe, weil so viel drumrum ist. Aber ich mache ein gezieltes Training, um alle Systeme gleich fit zu halten. Ein bisschen Herz-Kreislaufarbeit, ein bisschen Mobility und Atemtraining. Also eigentlich ein Jein.

Läufer? Ja oder Nein?

Ja. Klares Ja.

Bergauf oder Bergab?

Lange Stille … Bergauf. (10 Minuten nach unserem Gespräch doch noch das Umschwenken zum „Bergab“ mit einem Smiley)

Straße oder Trail?

Natur.

1 Paar Laufschuhe oder eher 10 Paar?

10 Paar. Sicher nicht nur eins.

Wettkampftyp oder chillig unterwegs?

Wettkampf! Immer schon gewesen.

Anleitungen und Hintergründe zu Trainingseinheiten und technischen Ansätzen spezifisch für Trailrunner findet ihr auch im Bereich „Training“.

Links:

www.lienhard-neuroathletik.com

Material für Basisübungen:

www.perform-better.de

Text und Bilder: Barbara Poxleitner