Keine schneebedeckten 4.000er. Keine tosenden Wasserfälle. Keine Gletscherquerungen. Stattdessen. Ein paar Meter flach am Parkplatz vorbei, dann eine steile Asphaltstraße hinauf, auf der Rampe nach rechts wellig dahin, erst auf einer Forststraße, dann einem Single Trail, einen steilen Schotterweg hinunter, ein kurzes Asphaltstück flach bis zur Wende hin und wieder zurück, dann auf Feldwegen das Tal queren, zwischendurch am Fischteich vorbei, bis der Weg in die Asphaltstraße auf der gegenüberliegenden Seite der Rampe mündet. Nun das steilste Stück hinauf und den Startberg entgegengesetzt hinunter. Das war’s. Der Backyard zwischen Wagendorf und Grafendorf. Unser Playground fürs Wochenende. Kein Mont Blanc, kein Matterhorn, keine Steilküste über dem Ozean, auch keine Wüste. Und trotzdem dürfte es heute in der lieblichen Oststeiermark spektakulär werden. Backyard Ultra. Das puristische Pendant zu immer imposanter werdenden globalen Ultratrail-Events.
Keep it simple
Die Regeln sind entsprechend einfach gehalten. Jede volle Stunde startet eine Runde über 6,7 Kilometer. 60 Minuten beträgt das Zeitlimit. Solange bis nur noch ein Läufer übrig ist – last man (or woman) standing.
Im Start-/Zielbereich kann sich jeder Teilnehmer seinen Pausenplatz einrichten. Ich gehöre mit Klappstuhl und Plastikbeutel zu den Minimalisten. Einige Mitstreiter könnten es in puncto Ausrüstung leicht mit professionellen Campern aufnehmen. Zelte, Liegen, Tische und vor allem Kisten mit Kuchen, Pizza, Süßigkeiten und Getränken in allen erdenklichen Geschmacksrichtungen sollen die Pause zwischen den Runden so erträglich wie möglich machen. Ich vertraue auf Flüssignahrung, meine Maurten-Packs, Oleus-Shots und Getränke vom Veranstalter. Während ich noch unser buntes Zeltlager bewundere, reißt mich ein schriller Pfeifton aus meinen Gedanken. Noch drei Minuten bis zum Start. Knapp 150 Läufer und Läuferinnen warten hinter dem Torbogen auf zwei weitere Pfiffe und um Punkt 9 Uhr den Start in das Abenteuer Austria Backyard Ultra. Diese Pfiffe werden uns nun stündlich zum Loslaufen ermahnen. Ich begrüße Helge und Paul. Wir tauschen uns kurz über die Renntaktik aus. Und sind uns einig. Langsam angehen.
Auf geht’s
Endlich geht’s los. Lockeres Traben, bergauf marschieren, wieder traben, bergab zurückhalten, wieder traben, erneut marschieren und locker hinunter ins Ziel. Etwas unter 50 Minuten brauche ich dafür. Vielleicht sogar etwas zu schnell. Die Pause kommt für mich zu früh. Ich will weiterlaufen. Doch heute geht es nicht nach mir. „Das Rennformat zwingt einem den Rhythmus auf“, erklärt Veranstalter Norbert die größte Herausforderung. Heute kommt noch die Hitze hinzu. Vor zwei Wochen kämpfte ich noch auf Ski bei Minusgraden gegen den eisigen Wind Lapplands. Heute bei ca. 30 Grad mehr als am Polarkreis gegen die Dehydrierung. Ich nehme meine Trinkflasche nun mit auf die Strecke. Locker, leicht, lässig verfliegt die zweite Runde. Schilder am Wegesrand motivieren mit Slogans wie „Tempo halten“ oder „schepfn!“, steirisch für arbeiten.
Die Stimmung ist bei fast allen noch gut, Gruppen bilden sich, um sich beim Terrainwechsel wieder neu zu formieren, man unterhält sich ungezwungen. Es hat was von einem Lauftreff am Samstagmorgen. Mit dem Unterschied, dass dieser mittags noch nicht vorbei sein wird.
Sunset Boulevard
Noch geht es mir gut. Nur das Loslaufen nach der Pause wird immer ungemütlicher. Sehnen an Knien und Achillesferse signalisieren immer stärker den Wunsch nach Ruhe. Doch bis Runde 8 bleibe ich konstant knapp unter der 50-Minuten-Marke. Viele kämpfen angesichts der Hitze mit Übelkeit. Immer häufiger erklingt die Glocke, die jeder ausscheidende Läufer anschlagen muss. Auch ich bin die viele Flüssigkeit nicht gewohnt. Teilweise trinke ich einen Liter pro Runde. In Runde 9 kämpfe ich mit Seitenstechen. Ich brauche zum ersten Mal über 50 Minuten. In Runde 10 dann 54. Gernot sitzt neben mir. Er war super locker unterwegs. Bis sein Magen streikte. Er motiviert mich. Bei 15 Runden gibt es auf dem Finisherbrett die nächste Markierung, sagt er mir. Für 100 Kilometer. Ich glaube noch nicht so recht dran. Nehme mir aber vor, von Runde zu Runde zu denken. Runde 11 wird knapp. Über 55 Minuten. Doch eines habe ich bei Ultras gelernt. Es geht niemals linear bergab. Und genauso kommt es. Es wird kühler. Und es geht mir deutlich besser. 52 Minuten. Ich summe meinen selbst komponierten Tor de Geants-Song „I‘m back in the game“. Das Abendrot spiegelt sich im Fischteich. In diesem Moment bin überzeugt, dass der Wiesenweg um den Wagendorfer Teich mindestens in der Liga berühmter Seepromenaden wie Annecy oder Omegna notiert ist.
Mittlerweile ist es dunkel. Wir laufen mit reflektierender Warnweste und Stirnlampe. In Runde 13 beginnen meine Oberschenkel zu versagen. Konditionell geht es mir super. Ich war den ganzen Winter viel auf Ski. Über 3000 km. Aber auf den Impact der Laufschritte, gerade im Downhill bin ich nur ungenügend vorbereitet.
Finish
Wenn die Oberschenkel nicht mehr wollen, muss ich eben mit dem Kopf laufen. Die Gruppe ist klein geworden. Ich schätze 30 Leute. Ich laufe alleine. Bergauf geht noch gut. Bergab fast gar nicht mehr. Noch zwei Runden. Gernot motiviert mich. Nach 55 Minuten beende ich die 14. Runde. Die Stimmung ist auch jetzt nachts noch gigantisch. Zuschauer und Betreuer klatschen einen bei jedem Rundeneinlauf ab. Noch einmal raus. 56 Minuten. Es ist geschafft. Um Mitternacht ist für mich die Ziellinie gekommen. 100 km so kurz nach dem Winter waren mehr, als ich realistisch erwarten konnte. Und es sollte heute ja auch nur ein Kennenlernen mit dem Backyard-Format sein. Gernot und ich essen Pasta, trinken ein Bier und freuen uns über eine warme Dusche mitten in der Nacht.
I’ll be back!
Nach einer kurzen Nacht bewundere ich die übrig gebliebene Gruppe, die die Nacht durchgelaufen ist. Sofie finisht als erste Frau nach 24 Runden, Markus nach 31. Das motiviert mich. Und ich bin überzeugt, da geht noch was. Und wie schon ein berühmter Steirer gesagt hat, steht für mich fest. „I‘ll be back!“ Schon bald beim nächsten Austria Backyard Ultra. Auf diesen Veranstalter ist Verlass. Es hat einfach alles gepasst. Vom Startsackerl über die Verpflegung, die Beschilderung bis zum Finisher-Present. Aber ich werde auch nach Wagendorf wiederkommen. Es war ein Fest. Und ich bin überzeugt, der Sonnenaufgang am Fischteich wird magisch sein. Sobald der Muskelkater weg ist, werde ich dafür „schepfn“.
Text: Michael Förster