Tor de Geants: Der Wolf läuft mit – Teil 2

Tor de Geants 2023

330 Kilometer und 24000 Höhenmeter – nonstop durch das Aostatal. Michael Förster erzählt vom Lauf seines Lebens bei der TOR de Geants:

„Mir ist kalt. Innerlich. Mein Körper zittert, immer wieder klappern die Zähne. Die Wolldecke auf meinem Feldbett wärmt mich nur unzureichend.“

Was bisher geschah lest ihr in Teil 1

Tor de Geants – der Wolf läuft mit – Teil 2

Der Regen lässt nach. Ich nutze die Chance. Bald verabschiedet sich die bereits hinter den Wolken verborgene Sonne ganz und überlässt uns der Dunkelheit der Nacht. In endlosem Auf und Ab, verschlungen, teilweise technisch, unrhythmisch und ermüdend, zieht sich der Weg Richtung Rifugio Barma. Auch hier sind bereits alle Schlafplätze belegt. Ich esse Pasta und Polenta, wälze mich auf der Eckbank. Und beschließe, weiter zu marschieren. Drei kleinere Pässe erwarten mich auf dieser Etappe. Mit zunehmender Nacht schleicht sich auch die Müdigkeit heran. Beim steilen Anstieg zur Crenna di Ley schwanke ich immer wieder und muss aufpassen, nicht rückwärts umzufallen. Endlich stehe ich in dem Felsdurchbruch. Tief unten leuchten die Lichter aus dem Tal von Gressoney. Ich fühle mich einsam. Ich sehne mich nach dem nächsten Kontrollpunkt am Col della Vecchia. Lautes Kuhglockenläuten empfängt mich bald. Doch statt freundlicher Volunteers, sehe ich mich umringt von mürrisch dreinblickenden Kühen. Irgendwann erreiche ich tatsächlich das Zelt. Drei Stunden bis Neil, ist die entmutigende Prognose des Streckenpostens. Der Regen wird immer stärker. Der Trail verwandelt sich in eine schmierige Rutschbahn. Egal wie sehr ich meine Stöcke in den Matsch bohre, immer wieder rutsche ich aus. Ausgekühlt, hungrig, müde und erschöpft  komme ich an. Endlich habe ich Glück und bekomme für eine Stunde einen Schlafplatz. Basilia trocknet meine Kleidung am Feuer. Der beißende Geruch des Rauchs wird mich die nächsten Tage begleiten. Mit neuer Energie schaffe ich es über den nächsten Berg nach Gressoney. Ich liege einige Stunden vor meiner Vorjahreszeit. Gute Gelegenheit für einen Powernap.

Angst vor der Downtime

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Am frühen Nachmittag des vierten Tages ziehe ich weiter. Es regnet etwas. Doch beim Aufstieg zum Col Pinter klart es etwas auf. Die rissige Wolkenwand gibt immer mehr vom schneebedeckten Monte Rosa frei. Ich atme die kühle, klare Bergluft ein. Ich fühle mich großartig. Wie schon im Vorjahr. Ich habe Angst vor einem Deja Vu. Ich fühlte mich wie in einem Vertical Race. Kein Laktat, frische, lockere Beine. Eigentlich unmöglich. Meine finale Downtime folgte nur einen Pass später. Heute gehe ich es konservativer an. Dennoch kann ich einige Läufer überholen. Auch der Downhill rollt. Bereits zur Dämmerung erreiche ich Champoluc. Ich stelle erneut fest, dass die Abendzeit zum Schlafen für mich am Schlechtesten ist. Im Dunklen kämpfe ich mich steil hinauf zum Rifugio Grand Tournalin. So schnell ich es betrete, verlasse ich es auch schon wieder. Zu stark sind die Erinnerungen an meinen Einbruch. Nichts davon ist heute zu spüren. Der Anstieg zum Col de Nanna kann mir nichts anhaben. Auch bergab läuft es anfangs noch flüssig. Bis ich kurz vorm Weiler Cheneil Tempo rausnehmen muss. Nur noch langsames Wandern gelingt mir. 2022 geht mir nicht aus dem Kopf. Patella- und Achillessehnen schmerzen. Wie gern hätte ich bei Ankunft in Valtournenche meine Beine im kalten Brunnen gekühlt. Doch ich denke an die Tapes an den Füßen. Also lege ich mich über den Brunnen, versuche, mich in der Plank zu halten und zumindest die Knie ins Wasser zu bekommen. Zum Glück schaut mir in diesen frühen Morgenstunden niemand zu. Ich stelle wieder fest, dass mit zunehmender Renndauer sich das Verhalten von Nachtläufern und Partygängern immer mehr annähert.

Basilia erwartet mich an der Life Base. Essen, die erste Dusche seit Sonntag, Schlafen, neue Tapes, dann Kaffee und weiter lautet das von ihr aufgestellte Programm. Trotzdem verliere ich zu viel Zeit. Egal. Jeder Schritt von nun an liegt über meiner Vorjahresmarke. Und die Zuversicht wächst, es diesmal ins Ziel zu schaffen. Doch ich bin mir bewusst, dass das gute Gefühl sich in Sekunden auflösen kann.

Trolle mit langen Bärten

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Der Tag beginnt sonnig. Meine Stimmung schwankt zwischen Euphorie über die zurückgelegte Distanz und Ernüchterung über den vor mir liegenden Weg. Ich besinne mich darauf, in der Gegenwart zu bleiben und akzeptiere die von mir verlangte Vorwärtsbewegung als mein Schicksal. Einfach immer in Bewegung bleiben. Die Verpflegungsstationen nutze ich nur zum Auffüllen meiner Flasks. Endlich überquere ich den Fenetre du Tsan auf über 2.700 Metern. Steil geht es hinunter zum Rifugio Lo Magia. Mittagessen inklusive Cafe Americano und Snickers zum Dessert. Die Koffein-Schoko-Kombi wirkt. Während einige Mitstreiter angesichts des angekündigten Regens noch zögern, pushe ich den nächsten Uphill hinauf. Wieder singe ich selbstkomponierte Lieder. An den kommenden Verpflegungsposten rausche ich vorbei. Am Col de Vessonaz setzt der Regen endlich ein. Geht über in Graupelschauer. Doch ich weigere mich, meine Jacke anzuziehen. Im T-Shirt versuche ich durch hohes Downhilltempo die Kälte zu kompensieren. Viel zu spät habe ich ein Einsehen. Das lang gezogene Talstück ermüdet mich. Immer langsamer bin ich unterwegs. Die Dämmerung setzt ein. Lange Farne am Wegesrand verwandeln sich immer wieder in Trolle mit langen Bärten. Zumindest registriere ich die Sinnestäuschung noch. Doch wie immer am Abend funktioniert es auch in Oyace nicht mit etwas Schlaf. Kurz nach 22 Uhr mache ich mich zur Besteigung des Col Brison auf. Sehr steil hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Zum Seitenwechsel wird es nass und neblig. Durchnässt, müde und hungrig erreiche ich die letzte Life Base Ollomont. Hier schlafe ich mit drei Stunden länger als geplant. Immer wieder spannen sich meine Oberschenkel an. Der Muskeltonus ist zum Zerreißen hoch. Die Patellasehnen schmerzen im Liegen fürchterlich. Mein Körper ist die Ruhe nicht mehr gewohnt. Und nach dieser längeren Pause die Bewegung auch nicht mehr.

Der Wolf läuft bis zum Schluss mit

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Wie habe ich mich auf die letzte der sieben 50-Kilometer-Etappen gefreut. Doch die Energie ist über Nacht aus meinem Körper gewichen. Die eigentlich unspektakulären zwanzig Kilometer bis Bosses nehmen kein Ende. Im Uphill fehlt die Power, im Downhill knicken die Oberschenkel weg. Doch nach einem kurzen Break bin ich wieder im Rennen. Col Malatra is calling. Der final climb. Nach dem Stopp in Ollomont habe ich das 130 Stunden-Zeitziel schon abgehackt gehabt. Doch vielleicht geht da noch was. Ich treffe Remi. Er hat seinen Laufpartner verloren. So kurz vor dem Ziel musste dieser verletzungsbedingt aussteigen. Der Wolf läuft bis zum Schluss mit. Wir kämpfen uns gemeinsam bis zum Rifugio Frassati hinauf. Er lässt sich seine Füße behandeln. Ich gehe gleich wieder hinaus. Es wird kühler und neblig. Ich quere eine Schotterwüste. Dann klettere ich durch Geröll hinauf zum magischen Col Malatra. Dem letzten der TOR. Der lange Downhill beginnt. Auf dem Balcon Ferret schalte ich zum letzten Mal meine Stirnlampe an. Kurz vor dem Rifugio Bertoni sitzt ein Läufer an der Strecke. Er braucht medizinische Hilfe. Ich gebe am wenige Minuten entfernten Verpflegungsposten bescheid. Ich wünsche dem Läufer die Kraft, sich noch aus dem Wolfsmund zu befreien.

Den steilen Downhill kann ich wieder laufen. Nichts erinnert im Moment an 350 Kilometer, an 25.000 Höhenmeter. Jetzt weiß ich, mein Körper wird bis zur Ziellinie funktionieren. Ich biege in die Via Roma. Es ist Freitagabend. 21.30 Uhr. Passanten jubeln mir zu. Es ist geschafft. Nach knapp 130 Stunden bin ich im Ziel der Tor de Geants. Ich setzte mich etwas abseits. Ich versuche zu denken. Zurückzublicken. Oder nach vorne zu schauen. Nichts gelingt mir. Ich empfinde auch nichts Besonderes. Und trotzdem fühlt sich alles sehr gut an. Ich bin am richtigen Platz. Nach knapp 130 Stunden sollte ich genau hier sein. Ich bin in der Gegenwart angekommen. Und genau dafür hat sich die Reise gelohnt. Ich habe gelernt, nicht alles zu bewerten. Wenn Regen kommt, dann kommt er. Dann akzeptiere ich das. Und reagiere bestmöglich. Aber jedes gedankliche Szenario kostet nur Kraft und ändert nichts an der Situation. Ich weiß, dass diese Ziellinie bald wieder die Startlinie sein wird. Zu welchem Abenteuer kann ich noch nicht sagen. Der Platz neben mir ist frei. Basilia steht etwas abseits. Auch sie ist erschöpft. Vielleicht hat sie den Platz für den Wolf freigehalten. Nach insgesamt nur acht Stunden Schlaf während der vergangenen Woche, fällt es mir nicht schwer, ihn zu zu sehen. „Che il lupo non crepa mai.“ Das Abenteuer soll niemals zu Ende gehen.

Michael Förster

Die Tor de Geants

Die Tor des Géants (Tour der Riesen) ist ein Ultratrail, der seit 2010 jährlich im Herbst im Aostatal stattfindet.

Der Start des Rennens befindet sich in Courmayeur im obersten Abschnitt des Tales. Das Rennen besteht aus einer einzigen Etappe, die in maximal 150 Stunden zu absolvieren ist. Die Strecke geht über 330 Kilometer mit 24.000 Metern Höhendifferenz. Sie folgt den beiden Hochrouten beidseits des Aostatals: zuerst talauswärts der Haute Route n° 2, die auf der rechten Seite der Dora Baltea verläuft, bis zum Umkehrpunkt im Tal und danach retour auf der linken Bergflanke über der Dora Baltea der Haute Route n° 1 bis nach Courmayeur. Der Weg überquert 25 Bergpässe und erreicht den höchsten Punkt auf etwa 3300 Metern über Meer. (Quelle: Wikipedia)