Tor de Géants: Im Schatten der Riesen

Tor de Géants – Im Schatten der Riesen © Michael Förster

Nach über 24 Stunden erreiche ich das Ziel des Großglockner Ultratrails. Die letzten Kilometer waren hart. Besonders im Downhill schmerzten die Oberschenkel und verweigerten zunehmend koordinative Anforderungen. Die Freude beim Überqueren der Ziellinie ist riesig. Ich habe es geschafft. 110 Kilometer mit knapp 7.000 Höhenmetern und damit mein längster Lauf sind „in the books“ (LINK zum Rennbericht). Sehr viele sind in der ersten Nacht ausgestiegen. Bäche mit Gletscherwasser kühlten von unten aus. Kalter, peitschender Regen, wechselnd aus allen Richtungen ließ mich immer mehr auch am Oberkörper frieren. Am ersten Pass waren meine Hände so klamm, dass ich kaum mehr meine Stöcke greifen konnte. Doch ich wusste, es kommen auch wieder schönere Momente. Und sie kamen. Und da war der Gedanke an genau diesen Moment. Das Überqueren der Ziellinie. Die Belohnung für alle Anstrengungen, alle Strapazen. Die Kulmination meiner Emotionen. Diese kurze Zeitspanne, wenn es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Und der Geist leer und frei von allen Gedanken ist.

Die Riesen werfen ihre Schatten

Tor de Géants – Im Schatten der Riesen © Michael Förster

Und doch war heute etwas anders. Das ganze Rennen über lag ein subtiler Schatten auf mir. Meinen Gedanken. Meinen Emotionen. Imposante Berge säumten meine Trails. Sie warfen Schatten. Doch es waren nicht diese sichtbaren Konturen. Die meinen gesamten Körper, meinen Geist durchdringenden Schatten unterschieden sich nicht nur in meiner inneren Wahrnehmung. Sie differierten auch visuell. Es war kein klassisches Schwarz, kein richtiges Dunkel. Eigentlich farblos, transzendierend. Von weit her Gebirgsketten durchdringend. Grenzen überwindend. Fesselnd. Ein subtiles Grau, das jeden meiner Gedanken daran erinnerte, dass da noch etwas anderes war. Jede meiner Emotionen verzerrte. Es waren die Schatten der Riesen, der Giganten oder Géants, wie man sie im Aostatal nennt. Der höchsten Gipfel der Alpen – Mont Blanc, Gran Paradiso, Monte Rosa, Matterhorn. Sie warten bereits auf mich. In ihrem Schatten werde ich laufen. Vom Start in Courmayeur dem Höhenweg No. 2, Alta Via dei Naturalista talabwärts folgend und auf dem Höhenweg No. 1, Alta Via dei Giganti wieder zurück. Gegen den Uhrzeigersinn, einmal um das Aostatal herum. 330 Kilometer, 25 Pässe, 24.000 Höhenmeter, im Zeitlimit von 150 Stunden.

Faszination TOR

Viel wurde bereits über die Tor de Géants geschrieben. Und dabei die üblichen Superlative strapaziert. Eines der fünf härtesten Rennen der Welt. Unvorstellbar tough. Nicht in Worte zu fassen. Viele Horrorgeschichten kursieren. DNFs aufgrund von Unterkühlung, Dehydration oder kompletter Erschöpfung. Halluzinationen aufgrund des Schlafentzugs legen einen Schleier über die wirklichen Ereignisse. Wahrnehmungsverzerrungen lassen die Erlebnisse ins Surreale transzendieren. Heldengeschichten kursieren gleichermaßen. Auf der Expo des Lavaredo erzählte mir ein Italiener, wie sein Freund die TOR ohne Haut an den Fußsohlen das Rennen beendete. Der Kampf gegen Schmerzen, Müdigkeit, Erschöpfung wird glorifiziert. Das Finish als Kampf gegen die Naturgewalt und die endogene Schwäche zum Heldenepos stilisiert. Meine eigene Faszination ist tiefer, stiller, subtiler. Letztes Jahr liefen wir den ersten Anstieg der Strecke hinauf zum Col d’Arp. Unscheinbar schlängelte sich der Pfad hinauf. Nur vereinzelte gelbe Punkte erinnerten an die tausend Schicksale. Jedes einzelne verbunden mit Hoffnungen – bei wenigen auf eine top Platzierung oder zweistellige Zeit, bei den meisten darauf, überhaupt zu finishen. Jedes Schicksal genauso verbunden mit Befürchtungen – vor widrigen Wetterbedingungen, Verletzungen und Überlastungen oder einfach dem Streiken des eigenen Körpers. Es ist diese Auseinandersetzung mit dem Ungewissen, die mich an der TOR fasziniert. Ein Sich-darauf-einlassen. Ein Akzeptieren der Nicht-Planbarkeit. Das Inkaufnehmen einer DNF-Option. Ein Eintauchen in den Schatten der Riesen.          

Überraschung

Tor de Géants – Im Schatten der Riesen © Michael Förster

Wenn schon der Rennverlauf nicht planbar ist, so sollte es zumindest die Vorbereitung darauf sein. Sukzessive würde ich Kilometerumfänge und Höhenmeter steigern, kontinuierlich die Intensität nachziehen. Hundert Meilen wären eine gute Vorbereitung und ein Finish zumindest die Gewissheit, die Hälfte der TOR zu meistern. Doch es kam anders. Das hinter dem Schleier der Ungewissheit verborgene Abenteuer hat seinen Schatten bereits auf meine Vorbereitung geworfen. Gerade drei Wochen ist es her, dass Bergfreunde und TOR-Hauptsponsor Karpos auf mich zukamen. Mein Interesse an einem Startplatz wurde im Rahmen einer Neuauslosung nun doch honoriert. In vier Wochen stehe ich am Start. Mittags um zwölf Uhr werde ich am zweiten Septembersonntag im Herzen Courmayeurs loslaufen und mich auf den ungewissen Weg durch das Val d’Aosta machen. Im Schatten der Riesen. Ganz auf mich allein gestellt. Der Faszination erlegen. Davor werde ich noch viel Zeit in Training, Planung und Strategie stecken. Stay tuned.

Michael Förster