Michael Förster bestritt im Pitztal beim Pitz Alpine Glacier Trail seinen ersten 100er und erzählt auf atemberaubende Weise vom Mysterium der Ultradistanz.
Grenzerfahrung im Pitztal: Body und Mind im Dialog von Michael Förster
Tausende Kilometer auf Langlaufski bereiteten mich über den Winter auf mein Saisonhighlight vor. 220 Kilometer auf Ski durch die verschneite Wildnis Lapplands. Das war das Ziel. Doch dann kam Covid-19 und die Saison endete zu früh, zu abrupt und ohne Happy End.
Ich war nicht bereit, das zu akzeptieren. Also trainierte ich einfach weiter. Ganz so, als wenn das Rennen noch vor mir liegen würde. Zum Radfahren und Skirollern war es noch zu früh in der Saison. Blieb nur laufen. Viele Kilometer. Noch mehr Höhenmeter. Die Form wurde immer besser. Ein Wettkampf war immer noch nicht in Sicht. Dann die Überraschung. Ich erhielt einen Startplatz in der Auslosung des Pitz Alpine Glacier Trails für die Königsdisziplin P105.
106 KM, 6.100 Höhenmeter. Gratüberschreitungen auf 3.000 Meter Höhe
106 KM, 6.100 Höhenmeter. Gratüberschreitungen auf 3.000 Meter Höhe. Gletscherquerung. Lange Passagen über verblocktes Gelände. Ein Lauf der Superelative. Hochalpine Kulisse mit unzähligen Highlights und den Athleten alles abverlangender Streckenführung skizzieren ein atemberaubendes Spannungsfeld. Und ich mittendrin.
Der Startschuss fällt um 23 Uhr. Masken, Abstandsregelung im Starterfeld verbunden mit dem Lichtermehr aus roten und weißen Headlights erzeugen eine surreale Atmosphäre. Der aus den Boxen dröhnende Soundtrack ist bei „Insomnia“ angelangt. Ich denke daran, dass ich bereits seit 15 Stunden wach bin. Und es würde ein weiteres Mal dunkel werden, bis ich an Schlaf denken konnte. Es würde hart werden. Hart, aber machbar. Ich bin fest überzeugt, das Ziel zu erreichen. „Where my mind goes my body follows.“ Ein Grundsatz, der mich bislang – abgesehen von ernstzunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen – stets über die Ziellinie gebracht hat. Ein Grundsatz, über den ich heute noch viel nachdenken sollte.
Der Startschuss fällt. Das Tempo ist wie immer bei Ultras zu hoch. Überholen ist nur auf dem ersten Kilometer möglich. Dann geht es steil nach oben. Die Oberschenkel brennen. Das Patellaspitzensyndrom schmerzt bei jedem Schritt. Sonst ist alles gut. Ich liebe diese steilen Anstiege. Stockeinsatz weit vorne und mit dem ganzen Körper nach oben pushen. Fast wie Doublepoling auf Ski. Bald wird das Tempo moderat. Gut so. Unsere Gruppe hat sich gefunden. Bloß nicht sauer laufen, sage ich mir ein ums andere Mal. Steinig geht es das letzte Stück auf über 3.000 Meter rauf. Das Tempo ist mir zu unrhythmisch. Ich überhole. Schließe schnell zur vorderen Gruppe auf. Das rächt sich sofort. Diese Höhe verzeiht nichts. Die Muskeln brennen, die Atmung fällt schwer. Es wird immer technischer. Beide Stöcke nehme ich nun in eine Hand. Die andere brauche ich immer öfter, um mich im steilen Gelände einzuhalten.
Von Sonnenaufgängen und Energieriegeln
Bald ist der Grat am Mittagskogel geschafft. Ein Schluck Cola an der Verpflegungsstation am Gletscher Express, dann wartet schon der Gletscher. Mit Grödeln geht es einen Kilometer über blankes Eis. Ein kurzer Gegenanstieg und dann steinig, stufig, teilweise seilversichert wieder runter zum Startort Mandarfen. Trotz Nacht und Höhe ist es ziemlich warm. Meine Trinkblase ist leer. Zu früh. Ich bin froh, Basilia im Tal zu treffen. Trinkblase wechseln, ein halber Riegel, Cola und weiter geht’s rauf zum Riffelsee. Mir geht es noch immer blendend. Sehr trailig in stetem Auf und Ab laufen wir Richtung Taschaschhaus. Der Sonnenaufgang erinnert mich an den nächsten Riegel. Basilia wartet kurz vor der Verpflegung an der Materialseilbahn auf mich. Ich freue mich. Über Basilia und auch über Cola, Gel und Riegel. Leicht abfallend geht es nun durchs Tal wieder nach Mandarfen. Nach zehn Stunden mache ich mich zur dritten Runde auf.
Das Überschreiten der 50k Marke
Es ist 9 Uhr morgens. Steil ist der Anstieg zur Kaunergrathütte. Der Weg nimmt kein Ende. Nach Überschreiten der 50KM-Marke sehe ich die Hütte. Doch nur in Zeitlupe komme ich näher. Essen fällt mir immer schwerer. Ich nehme mir vor, bis zur Hütte einen Riegel zu essen. An jeder Kehre einen Bissen. Irgendwann ist auch diese Etappe geschafft. Einige Läufer sitzen schon an der Hütte. Jedem ist die Erschöpfung anzusehen. Noch zwei Gegenanstiege warten in schwierigem Gelände. Doch auch der folgende Downhill ist keine Erleichterung. Jeder Schritt eine Herausforderung. Ich lasse den idyllischen Bergsee hinter mir. Endlich wird der Weg wieder etwas laufbar. Vor dem etwas ausgesetzten Almenweg treffe ich Basilia. Ich setze mich, esse etwas Suppe und Brot. Das Felsmassiv in der Ferne erscheint mir kurz als riesiges Murmeltier. Der Streckenposten fragt mich, wie lange ich für das Teilstück gebraucht habe. Ich weiß Start- und Endzeit. Die Subtraktion beider Zahlen aber gelingt mir nicht mehr. Ich lege mich kurz auf den Boden, schließe die Augen. Ich spüre den für die Ruhephase viel zu hohen Puls. Ausruhen geht, schlafen gelingt mir nicht
Nur langsam komme ich wieder in Bewegung. Ich treffe Heinz aus der Schweiz. Ein Stück laufen wir zusammen. Regelmäßig nehme ich nun Gels. Mir geht es wieder besser. Nach der Tiefentalalm denke ich darüber nach, dass ich Mandarfen ein weiteres Mal verlassen muss. Viele werden hier aussteigen. „Where my mind goes my body follows.“. Ich stelle mir bildlich vor, wie ich meine Verpflegung auffülle und die Station gleich wieder verlasse. „DNF is no option.“ Die Möglichkeit ist verführerisch. Doch ich würde mir dies nie verzeihen.
Von Schüttelfrost und Leere
Erstmal muss ich ins Tal. Dann leicht ansteigend zum Startort zurück. Ich laufe und marschiere im Wechsel. Wie in meiner Vorstellung passiere ich Mandarfen. Erneut geht es steil zum Riffelsee hinauf. Der Weg erscheint mir so viel länger als heute Morgen. Meine Füße schmerzen. Wie viele Blasen sich wohl unter meine Socken finden würden? Ich beiße die Zähne zusammen. Basilia begleitet mich. An der letzten Verpflegung – Sunnaalm – drängt sie mich, noch einmal kurz die Augen zu schließen. Der Puls pocht. Ich will weiter. „Wie weit ist es noch?“, frage ich den Verpflegungsposten. Noch 13 Kilometer. Basilia sieht das Entsetzen in meinem Gesicht. Jammern bringt nichts. Wir bahnen uns unseren Weg durch eine aufgewühlte Kuhherde. Es ist noch immer warm. Doch es friert mich. Nicht von außen. Die Kälte scheint aus meinem Inneren zu kommen. Mit einem Mal überkommt mich ein Schüttelfrost, meine Zähne klappern. Mein Körper will meinem Geist nicht mehr folgen. Ich vermindere das Tempo. Noch ein Riegel. Irgendwie schaffe ich es, Körper und Geist zu versöhnen.
Von Läufern und Sternen
Der Riffelsee ist in der finsteren Nacht nur schemenhaft zu erahnen. Ich sehe die Scheinwerfer eines Autos am anderen Ufer. Es sollte sich herausstellen, dass es eine Vierergruppe Läufer war. Ich blicke hinüber Richtung Mittagskogel. Blicke hinauf. „Da sind Läufer“, sage ich zu Basilia. „Nein, das sind Sterne“, entgegnet sie.
Endlich geht es auf den finalen Downhill. Die Vierergruppe kommt näher. Wir forcieren das Tempo. „Die lassen wir nicht vorbei“, sage ich erst zu mir, dann zu Basilia. Einige Kilometer geht es nun auf der Forststraße zurück. Wir laufen zügig. Mir geht’s wieder gut. Mein Körper will ins Ziel. Mein Mantra scheint sich umzukehren. „Where my body goes my mind follows.“
Zum letzten Mal laufe ich über die Brücke. Ich blicke mich um. Niemand hinter mir. Ich kann den Zieleinlauf genießen. Nach 25:38 Stunden laufe ich über die Ziellinie. Ziehe mir wieder das Tuch über das Gesicht. Veranstalter Gerry überreicht mir die Finisher-Medaille.
Von Betreuerinnen und Mysterien
Platz 18 gesamt, 5. in meiner Klasse. Doch das ist Nebensache. Ich habe es geschafft. Ich bin unglaublich dankbar. Meiner Betreuerin Basilia. Sie wusste zu jedem Zeitpunkt genau, was das Richtige für mich war. Dem Orga-Team, das in diesen herausfordernden Zeiten dieses phänomenale Event durchgezogen hat. Meinem Trainer Thomas, der es geschafft hat, die gute Winterform über den ganzen Sommer zu konservieren. Und natürlich meinem Körper, der schließlich doch dem ausgegebenen Ziel gefolgt ist. Die Knieschmerzen verschwanden übrigens nach zehn Stunden. Ein weiteres Mysterium der Ultradistanz. Alles kommt und geht. Energie, Schmerzen, Müdigkeit. Das Geheimnis liegt darin, die Balance zu halten.