Basilia und Michael Förster erarbeiten sich beim Engiadina Scuol Trail über 50 Kilomter und 3.200 Höhenmeter die versteckten Geheimnisse des Unterengadin.
Engiadina Scuol Trail
Stetig steigt die kurvige Straße aus dem Inntal an. Steile Wände begrenzen das Tal zu beiden Seiten. Entgegengesetzt zum talabwärts fließenden Inn schraubt sich der Touristenstrom aufwärts. Die meisten Besucher halten erst, wenn das Tal sich weitet und den Blick auf die Seenlandschaft des Oberengadins freigibt. So wie der junge Inn in der Schlucht mit starker Strömung ungebremst nach unten rauscht, so finden viele Besucher des Engadins auch erst im Talkessel Gelegenheit, die Schönheit der Natur zu betrachten. Wer es jedoch einmal geschafft hat, im Unterengadin zu halten, wird der Faszination des an die tausend Jahre alten Ortes Scuol erliegen. Wer von den Einheimischen mit einem herzlichen „Allegra“ begrüßt wurde, wem auf romanisch ein „Bun di“, ein guter Tag gewünscht wurde, der wird diesen in den umliegenden Bergen finden.
Geheimnisse
Die Schönheit des Unterengadins offenbart sich subtiler. Die Geheimnisse der Natur liegen versteckter. Die spektakulärsten Ausblicke muss man sich erarbeiten. Die Topografie der Gegend ist vielfältig, nur flache Abschnitte sucht man vergebens. Aber deswegen ist heute auch niemand da. Erst zum zweiten Mal findet der Engiadina Scuol Trail statt. Trotz erfolgreicher Premiere erwartet uns heute eine optimierte Streckenführung auf der Langstrecke. Etwas kürzer mit knapp 50 Kilometern. Dafür mit 3.200 positiven wie negativen Höhenmetern steiler, fordernder und technischer.
Analogien
Bereits der erste Blick beim Verlassen des Parkplatzes eröffnet ein pittoreskes Postkartenmotiv. Majestätisch thront die Baselgia San Geer auf einem Felsvorsprung hoch über dem Inn. Fast kitschig. Doch dafür zu stimmig. Es scheint, als wenn der reißende Inn in hunderten von Jahren alles Überflüssige weggespült hätte. Übrig geblieben ist die Essenz aus Natur und antiken Bauten. Welche Analogie zum Laufen in dieser Bergwelt. Die Reduktion auf das Wesentliche. Minimalistische Ausrüstung. Leichtflüssige Bewegung. Anpassung an das Gelände. Auf einer überdachten Holzbrücke queren wir den Inn, steigen durch enge Gassen des Ortskern Scuols bis zur Talstation der Bergbahn. Das reicht als Warmup. Wir reihen uns hinter dem Start-/Zielbogen ein. Mit Schweizer Pünktlichkeit schickt uns der Startschuss um Punkt 7 Uhr auf die Strecke.
Perspektivenwechsel
Die Strecke des Alvetern Trail ist geografisch logisch konzipiert. Gleichzeitig bereitet das Streckenprofil den Körper ideal auf die Belastungsspitzen des Rennens vor. Auf und ab, mal Forststraße, dann Singletrail oder Wiesenquerung. Die Flora begeistert bereits hier unten. Blumen in leuchtendem Rosa markieren die Grastrasse. Die Artenvielfalt der Bergwiesen reizt die zur Verfügung stehende Farbpalette maximal aus. Gestern Abend bei der Registrierung schwärmte Reto aus dem Orga-Team bereits von diesem Naturspektakel. Wir schauten uns Edelweiße auf seinem Smartphone an. Ich überlege. Wann habe ich mich das letzte Mal mit einem Mann über Blumen unterhalten? Nach gut einer Stunde laufen wir abwärts auf die Ortschaft Sent zu. Viel gäbe es wieder zu schwärmen. Doch die Wahrnehmung für die Umwelt schwächt sich ab. Der Weg dreht nach oben. Erstmal wird sich daran nichts mehr ändern. Steigende Herzfrequenz, erhöhter Laktatwert, muskuläre Beanspruchung. Dies alles verlagert die Perspektive nach innen.
Erwartungen
Eine Stunde später endet der moderate Anstieg. Nun wird es richtig steil. Und die Luft dünner. Auf knapp 3.000 Meter geht es hinauf. Die Berge sind in dichte Wolken gehüllt. Ich bin froh darüber. Die Lauftemperatur ist ideal. Und die Aussicht konnte ich bereits vergangene Woche bei der Streckenbesichtigung genießen. Der Trail vom Mot Spadla zum Piz wird sukzessive steiler. Bald müssen wir ein drahtseilversichertes, steiles Stück klettern. Die Schneewechten am Grat sind in der vergangenen Woche sichtlich zusammengeschmolzen. Am Gipfel erfolgt die erste Bergwertung. Auch wenn nur der Schnellste prämiert wird, motiviert das zusätzlich. Runter nach Tiral laufe ich mit Anina. Wir laufen auch die restliche Strecke immer in Sichtweite. Sie freut sich, dass ich die Strecke gut kenne. Ich freue mich über ihre konstante Pace. Über 2.000 Höhenmeter haben wir bereits in den Beinen, als es rauf zum Fuorcla Champatsch geht. Anina und ich wagen Prognosen für die Finisher-Zeit. Sub8 ist drin. Muss es auch. Denn um 15 Uhr ist Siegerehrung. Und ich hoffe, Basilia hat was zu feiern.
Finale
Der Pass ist überquert. Nur ein kleines Schneefeld erinnert mich an das mühsame Schneestapfen vom letzten Wochenende. Während ich auf dem harten Schnee abfahre, kommt natürlich auch die Erinnerung an die Wintersaison hoch. An die Langlaufloipen unten am Inn. Weiter so gleiten wäre jetzt schön. Stattdessen schmerzt der Downhill-Impact in Muskeln und Sehnen. Meine beiden Flasks sind auch schon leer. Ich sehne den nächsten Kontrollposten herbei. Ein welliger Singletrail führt uns horizontal entlang einiger Ausbuchtungen. Endlich ist die Bergstation Motta Naluns in Sicht. Hier sind Basilia und ich letzten Samstag ins Tal abgestiegen, um die Tour am Folgetag fortzusetzen. Heute geht es direkt weiter. Erst moderat ansteigend, dann wieder horizontal wellig und schließlich biegen wir scharf rechts ab. Der finale Climb erwartet uns. Bergwertung Nummer 2 am Piz Clünas. Ein paar Reserven halte ich zurück. Denn das Ziel ist unten im Tal. 1.500 Meter Downhill. Immer wieder wechselt die Strecke von steil in langgezogen und wieder zurück. Nach dem Bergdorf Ftan laufen wir auf einer Höhentrasse parallel zum Tal. Auf einem kegelförmigen Felshügel zieht das Wahrzeichen des Unterengadins – Schloss Tarasp – die Blicke auf sich. Eine lange Geschichte adliger Herrscher ließe sich dort rekonstruieren. Zum Glück werden Kronen heute nicht mehr vererbt, sondern bei Strava erkämpft. Wir biegen talwärts auf einen Singletrail. Fullspeed im Kampf um die Downhill-Krone. Nach 7:22 laufe ich durch den Zielbogen. Nun scheint die Sonne. Basilia strahlt mit ihr um die Wette. Platz 3. Viele sind zur Siegerehrung gekommen. Zum Abschluss kühlen wir unsere Beine im eiskalten Inn. Immer im Blick die Kirche auf dem Felsen. In dessen lateinischem Namen Scopulus findet sich der etymologische Ursprung Scuols. Selten ist es mir so schwergefallen, heim zu fahren. Bald werde ich zurückkehren. Und ich bin gespannt, ob ich jemals wieder ins Oberengadin durchfahre.