Auf und ab laufe ich die Fußgängerzone Alagna Valsesias. Die angekündigten, heißen Sommertemperaturen lassen auch frühmorgens schon den Schweiß fließen. Und das bereits beim Aufwärmen.
Alagna Valsesia – Im Schatten des Monte Rosa
Die Walsergemeinde Alagna ist das letzte Dorf im Val Sesia an der Südseite des Monte Rosa Massivs. Der Ort lebt vom Charme vergangener Jahre. Die Holzhäuser sind im typischen Walserstil mit Holzlatten davor gebaut. Diese dienten in früheren Zeiten dem Trocknen des Heus. Meine Laufkleidung würde bestimmt auch gut darauf passen.
In langer Hose laufe ich tendenziell eher im Bereich von Minusgraden. Hätte ich die Wahl, würde ich selbstverständlich auch heute die kurze Variante wählen. Doch die Pflichtausrüstung ist streng reglementiert. Lange Hose, langes Shirt, Snow-Gaiters und ein gut gefüllter Rucksack. Nicht zu vergessen, Spikes, die wir auf der zweiten Hälfte über die Schuhe ziehen müssen.
Mein Blick schweift von der einen zur anderen Talseite. Grüne Hänge, zum Teil dicht bewaldet. Nichts deutet auf eine alpine Landschaft mit endlosen Schneefeldern hin. Irgendwo hinter der Kuppe muss der Schnee aber liegen. Und sehr viel davon. Das sagte man uns gestern Abend beim Briefing. Aufgrund der zu erwartenden hohen Temperaturen und des damit einsetzenden Tauprozesses wurde der Start um eine halbe Stunde vorverlegt.
Genauso wie früher und doch anders
Endlich stehe ich mit Basilia und weiteren 150 Läufern gemeinsam im Startfeld auf der Piazza Grober. Die Musik wird lauter. Italienische Klassiker, modern gecovered. Erinnerungen an vergangene Zeiten. Und doch vermittelt der unterlegte Beat sofort das Gefühl einer veränderten Gegenwart. Auch die spannungsgeladene Atmosphäre wenige Minuten vor dem Start weckt Erinnerungen an frühere Zeiten. So lange liegen die letzten Rennen gar nicht zurück. Doch etwas ist anders. Die Maskenpflicht am Start und auf den ersten Metern ist keine große Einschränkung. Und doch steht die Maske als physisches Artefakt für die Unsicherheit der pandemiegeprägten Zeit. Letztes Jahr wollten wir eigentlich hier laufen. Der Start verschob sich. Auch dieses Jahr herrschte lange Unsicherheit. Erst die letzten Wochen zeichnete sich ab, dass wir heute die Trailrun-Saison eröffnen würden. Der individuelle Kampf gegen hartnäckige, körperliche Überlastungserscheinungen bettete sich seit Monaten in diese Phase der globalen Unsicherheit ein.
Startschuss und alles ist vergessen
Der Startschuss beendet mein Grübeln. Die geplante Zurückhaltung ist vergessen. Technobeat, drei Espressi und das Adrenalin der Meute. All in! Ein kurzes Stück auf der breiten Straße, dann verengt sich der Weg schon zu einem Singletrail. Die Kraft reicht noch zum Nahkampf. Kurz drauf fordert der Anstieg schon vollen Einsatz. Steil schlängeln sich die Serpentinen durch den Wald. Meine Beine brennen. Der Schweiß fließt angesichts der trotz zunehmender Höhe nicht besser werdenden Schwüle in Strömen. Der Puls ist zu hoch. Ich reduziere das Tempo. Muss Läufer von hinten passieren lassen. Irgendwann wird es etwas flacher. Ich noch langsamer. Doch der Puls bleibt fast unverändert hoch. Noch eine letzte Rampe und hinter einer Kuppe liegt die einzige Verpflegungsstation „Bocchetta delle Pisse“. Ich fülle meine Trinkflaschen auf. Etwas mehr als die Hälfte des Double Verticals, also eines Anstiegs von 2.000 Höhenmetern ist geschafft. Die Streckenposten wachen sorgsam darüber, dass jeder Athlet nun seine Spikes überzieht.
Back in the Race
Ab jetzt geht es über Schneefelder und rutschiges, verblocktes Gelände. Endlich wieder Schnee. Die Temperatur ist nun auch erträglich. Eine kurze Talquerung auf rutschigem Untergrund, dann geht es einen Steilhang hinauf. Die kurze Pause hat mich ins Rennen zurückgebracht. Der Puls ist nun wieder im Schwellenbereich. Ich kann mich wieder an einigen Läufern vorbeikämpfen. Auf Schnee fühle ich mich zu Hause. Gerade einmal 350 Kilometer in Laufschuhen stehen 5.000 auf Langlaufski des vergangenen Winters gegenüber. Ein hartnäckiges Patellaspitzensyndrom ließ dieses Jahr noch kein vernünftiges Lauftraining zu. Der steile Schneehang erfordert dann auch mehr Doppelstockeinsatz als Laufschritt. Ich bin zurück im Rennmodus. Einzig der nun im Minutentakt weicher werdende Schnee macht jeden Überholvorgang zum Z5-Intervall. Ist die Hauptspur noch einigermaßen fest, so gibt die Schneedecke links und rechts davon nun immer mehr nach. Die schweren Alustöcke mit überdimensionalen Stocktellern kosteten zunächst einiges an Kraft, nun erweisen sie ihren Dienst.
Alles gegeben und doch noch viel vor
Endlich entdecke ich ein Gebäude oberhalb des kein Ende nehmenden Steilhangs. Schritt für Schritt kämpfe ich mich nach oben. Eine letzte Schleife um die Felsformation. Das Ziel rückt in greifbare Nähe. Jetzt so kurz vor dem Ziel wünsche ich mir weiterlaufen zu können. Ich bin im Ziel, aber nicht am Gipfel. Der VK2 endet hier auf 3260m Höhe kurz vor der Indren Bergstation. Der Monterosa Skymarathon führt noch weiter rauf auf 4554m und dann auch wieder runter.
Basilia ist wie üblich schon im Ziel. Beide sind wir heute nicht ganz zufrieden mit unserem Ergebnis. Wir fragen uns dann wie immer nach einem Rennen, ob wir alles gegeben haben. Definitiv! Ich am Anfang sogar viel zu viel. Wir können also zufrieden sein. Und wir sind uns einig. Wir kommen wieder. Dann nicht nur ins Ziel, sondern auch auf den Gipfel. Margherita Hut is calling!