Das Tal liegt noch im Schatten, als ich kurz vor 9 Uhr morgens in Eaux Rousse ankomme. 21 Stunden bin bereits unterwegs. Um 12 Uhr Mittag habe ich in Courmayeur meinen Lauf durch das Aostatal gestartet. Es begann wie immer. Zwei schnelle Kilometer durch den Ort, um eine gute Position auf dem Singletrail zu haben. Zu schnell auf den ersten Pass – Col d’Arp, zu schnell ins erste Tal nach La Thuile. Danach fand ich langsam mein Renntempo. Zwei weitere Pässe folgten bis zur ersten Life Base in Valgrisenche. Nach einer Stunde machte ich mich auf zur Überquerung des Col Fenetre. Sehr steil ging es hinunter. Manchmal ist es der Vorteil der Nacht, nur einen kleinen Ausschnitt im Lichtkegel zu sehen. Hörbarer Steinschlag in unmittelbarer Nähe erinnerte dennoch an die alpinen Gefahren. Der auf der anderen Seite ansteigende Col Entrelor gab sich deutlich friedlicher, wenn auch nicht minder anstrengend. Der Vollmond leuchtete so hell, dass ich teilweise meine Stirnlampe ausschaltete. Wunderschön. Nur die Müdigkeit nimmt durch die geringe Helligkeit noch zu. Mir fiel Melodie und Text von Faithless‘ Kultsong Insomnia ein. „I can’t get no sleep“. Doch zum Schlafen war es noch zu früh. „I struggle and fight dark forces in the clear moonlight. Without fear. Insomnia”. Am Pass wird es endlich hell. Etwas unterhalb treffe ich eine japanische Läuferin. Wir traben den langen Downhill gemeinsam hinunter. Unser Gespräch streift von Ultratrails über britische Monarchie, asiatischer Kultur hin zu den Gefahren des Populismus. Wir haben beide noch nicht geschlafen. Die Situation erinnert an den Heimweg von einer Afterhour-Party zum Taxistand. „I used to worry, thought I was going mad in a hurry. Getting’ stressed, makin’ excess mess …”
I can’t get no sleep
Ich beschließe, das schattige Tal gleich wieder zu verlassen und auf der Gegenseite bis zu den ersten Sonnenstrahlen aufzusteigen. An einer kleinen Berghütte ist es soweit. Die Sonne hat einen Felsbrocken davor bereits gewärmt. Ich ziehe meine Schuhe aus und lege mich darauf. Doch das mit dem Schlaf will nicht so richtig klappen. Beine und Füße zucken immer wieder unkontrolliert. Waren es Minuten oder nur Sekunden? Egal. Besser etwas Schlaf als gar keiner. Nach einer Stunde mache ich mich wieder auf den Weg. Erst flach, dann immer steiler geht es auf den höchsten Punkt der Tor, den Col du Loson auf 3.299 Meter. Am Rif. Vittorio Sella lädt die Nachmittagssonne noch einmal zu einem – leider erneut nur wenig erfolgreichen Powernap ein. „I can’t get no sleep“. Dann geht es hinab nach Cogne zur zweiten Lifebase. Auf dem kurzen Flachstück spüre ich Blasen an beiden kleinen Zehen. Nach einem kleinen Abendsnack lege ich mich auf eins der dicht an dicht gereihten Feldbetten. Es ist laut. Läufer kommen, Läufer gehen. Nach einer Stunde gebe ich auch den dritten, wenig erfolgreichen Schlafversuch auf. Bevor ich aufbreche, behandle ich noch die beiden Blasen.
Let me dream
Es ist 21.30 Uhr als ich Cogne verlasse. Die dritte Etappe sieht vom Profil am einfachsten aus. Lediglich ein Pass ist zu überwinden. Ich beginne verhalten. Die Muskeln müssen erst wieder warm werden. Doch das größere Problem sind die Blasen. Jeder Schritt fühlt sich an, als würde jemand mit dem Messer in die kleinen Zehen schneiden. Bergauf geht noch ganz gut, da der Fuß im Schuh nach hinten rutscht. Leider halten sich die Anstiege im Moment in Grenzen. Vor einer unbewohnten Hütte setze ich mich auf eine Bank. Mit der Sicherheitsnadel meiner Startnummer steche ich erneut die Blasen auf. Ich marschiere weiter. Die Schmerzen sind die gleichen. Das langsame Tempo lässt mich zunehmend auskühlen. Ich zwinge mich, einen Riegel zu essen. Hunger habe ich keinen. Die Hälfte schaffe ich. Der Anstieg zum Finestra di Champorcher zieht sich endlos hin. Der Abstieg wird noch viel schlimmer. Jeder Schritt ist eine Qual. Es wird eine lange Nacht, bis ich das Rif. Dondena erreiche. Ich bleibe bei der Begrüßung der Hütten-Crew meinem Songtext treu. „I need to sleep.“ Eine Stunde falle ich in unruhigen Schlaf. Dann operiere ich wieder meine Blasen. Ein traumhafter Sonnenaufgang begrüßt mich vor der Hütte. Ich gehe, trabe, laufe. Und das bergab. Ich kann mein Glück noch nicht glauben. Ich bin zurück im Rennen. Bis zum tiefsten Punkt der TOR in Donnas läuft es wieder wie zu Beginn. Und auch danach bleibt die Power. Die Sonne ist schon lange wieder untergegangen, als ich auf einem dem Wind ausgesetzten Grat das Rifugio Coda und damit den Halbzeitpunkt erreiche. Ich esse Pasta, versorge meine wunden Zehen und bekomme einen der begehrten Sleep-Slots über zwei Stunden. Ich hoffe, schlafen zu können. „Insomnia, please release me and let me dream“. Nach einer Stunde stehe ich auf. Immerhin. Etwas Schlaf war zwischen zuckenden Beinen, Hustenattacken und Umherwälzen schon dabei.
Thunderstorm
Es folgt ein technischer Weg, auf und ab, oftmals über verbocktes Gelände. Meine Zehen schmerzen wieder furchtbar. Ich versuche, fast die gesamte Belastung im Abstieg über meine Stöcke abzufedern. Erste Schilder weisen auf das Rif. della Barma hin. Ich weiß nicht mehr, wie viele es letztendlich waren. Nach wie vielen Kehren ich das Rifugio vermutete. Wie viele Enttäuschungen ich verkraften musste, bis endlich die Hütte im Nebel der späten Nacht auftauchte. Hier konnte ich neunzig Minuten schlafen. Unruhig, aber immerhin Schlaf. „I toss and turn without cease“ Voller Energie verließ ich die Station am frühen Morgen. Und testete die ersten Schritte. Wie schon am Vortag wurde ich positiv überrascht. Der Sonnenschein der vergangenen Tage wich zwar leichtem Nieselregen. Doch mein Körper funktionierte wieder. Von Kopf bis Fuß. Magisch wurde ich vom Jubel in Neil angezogen. Es wäre ein schönes Finish gewesen. Doch blieb nur Zeit für Polenta und eine halbe Stunde Schlaf am Lagerfeuer. Noch ein Anstieg hinauf zum Col Lasoneys, dann lang und zum Schluss schier endlos zur Life Base in Gressoney. Kurz vor Mitternacht verlasse ich nach gutem Essen und etwas unruhigem Schlaf die Turnhalle. Es regnet leicht. Erstmal geht es flach am Fluss dahin. Mir fallen die Augen zu. Immer wieder komme ich seitlich vom Weg ab. Erst lauter Donner und grelle Blitze wecken mich wieder auf. „Deep in the bossom of the gentle night is when I search for the light.”
No release, no peace
Etwas unterkühlt, aber wach verlasse ich meinen Unterstand. Steil geht es nun den Col Pinter hinauf. Es ist die vierte Nacht. Doch noch nie seit dem Start habe ich mich so gut gefühlt. Kein Laktat in den Beinen. Kein erschöpftes Schnaufen im Anstieg. Ich fliege förmlich nach oben. Selbst der kalte Gegenwind am Pass kann mich nicht aufhalten. Ohne Pause starte ich den Downhill. Schritt für Schritt im Lichtkegel meiner Stirnlampe. Immer wieder suggeriert ein Plateau das vermeintliche Ziel im Tal. Doch es dauert noch eine Weile, bis ich Champoluc erreiche. Die Schlafplätze im kleinen Palestra sind knapp. Ich bin froh, als ich endlich eine Decke bekomme und wieder eine Stunde schlafen kann. Noch ein Berg trennt mich von der nächsten Life Base. Es ist wieder kalt am Morgen, als ich mich auf den Weg mache. Doch bald wärmen die ersten Sonnenstrahlen. Wir steigen ein idyllisches Tal hinauf zum Rif. Grand Tournalin. Nichts ist mehr von der Energie der letzten Nacht übrig. Ich friere innerlich. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Hütte lege ich mich in die Sonne davor. Kühler Wind bläst die Wärme der Sonnenstrahlen fort. Ein paar Minuten Schlaf schaffe ich trotzdem. In Zeitlupe setze ich mich wieder in Bewegung. Viel schneller wird es nicht mehr. Der Abstieg nach Valtournenche dauert ewig. Blasen an Zehen, Druckstellen an den Füßen und eine entzündete Achillessehne. Die Situation ist aussichtslos. Im Ort entdecke ich eine typische italienische Fontane. Ich kühle Waden und Füße zwanzig Minuten in dem eiskalten Wasser. Danach fühlen sich meine Schuhe zwei Nummern zu groß an. Lange überlege ich in der Station. Das Schlafdefizit setzt mir zu. „Under ceaseless attack… I gets no sleep“. Die Schmerzen an den Füßen lassen keine flüssige Bewegung mehr zu. Die Summe an Problemen ist zu groß für weitere hundert Kilometer. Nach über 250 Kilometern und 21.000 Höhenmetern muss ich meine TOR beenden. Es zerreißt mein Herz, als mein Band abgeschnitten wird. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. „But there’s no release, no peace“. Ich verspreche, zurückzukehren. „Keep the beast in my nature“. Unglaublich viel habe ich richtig gemacht. Vielleicht wären bessere Tapes für zwei Zehen der Schlüssel zum Erfolg gewesen. Wer weiß, was nächstes Mal der kritische Faktor ist? Gedanken für viele schlaflose Nächte.
Insight
Ein DNF ist niemals leicht. Auch nicht nach 250 Kilometern. Für mich war es das erste Mal in einem Trailrun. Auf Langlaufski musste ich auch einmal aufgrund gesundheitlicher Risiken kurz vor dem Ziel des Nordenskiöldsloppet nach 200 Kilometern aussteigen. Auch damals versprach ich noch beim Abschnallen meiner Ski, zurückzukommen. Drei erfolgreiche Finishs folgten. Vor allem entwickelte sich eine tiefe Beziehung zwischen dem Rennen, der Region und der Landschaft und mir. „I write by candlelight. I find insight“. Vielleicht hat mein DNF vor diesem Hintergrund eine positive Konnotation. Vielleicht ist es der Beginn einer besonderen Beziehung zwischen mir und dem Aostatal. Ich erinnere mich an die vielen aufmunternden Worte und Glückwünsche vor der TOR. Italiener verwenden dafür das gebräuchliche Idiom „In bocca al lupo“. Der Wunsch nach dem Mund des Wolfes wird üblicherweise mit der Entgegnung „crepi il lupo“ beantwortet. Doch so groß die Sehnsucht nach der Ziellinie ist. Die Sehnsucht nach dem Abenteuer ist größer. Den Trails durch unberührte Gebirgszüge, über zahllose Pässe, vorbei an türkisen Bergseen, von Sonnenaufgang zu -untergang und weiter durch die Nacht, niemals enden wollend. Immer weiter. In diesem Sinne ist die Ziellinie nur eine neue Startlinie. Der Beginn eines neuen Abenteuers. Eines nie enden wollenden Abenteuers. Möge der Wolf niemals sterben. Dem nächsten Glückwunsch werde ich entgegnen, „che il lupo non crepa mai!“
Text und Bilder: Michael Förster