Schlösser, Festungen, mittelalterliche Städte und unzählige Höhenmeter: Der Trail Alsace Grand Est by UTMB führt mitten durch das Herz des Elsass – und durch die Tiefen der eigenen Belastungsgrenze. XC-RUN.DE Athlet Michael Förster wagt sich mit müden Beinen in das UTMB World Series Rennen und erlebt die rohe Magie des Trailsports.
Ein Lauf wie ein Epos
Stolz thront die Haut-Koenigsbourg über dem kleinen französischen Dorf Orschwiller. Eine halbe Million Besucher sichern der im zwölften Jahrhundert erbauten Burg einen Logenplatz unter Frankreichs beliebtesten Sehenswürdigkeiten. Heute kommen über 1.100 Teilnehmer des Ultra-Trail des Païens dazu. Ich bin einer davon.
Mit nicht ganz frischen Beinen stehe ich im Starterfeld dieses UTMB World Series Laufs über 110 Kilometer und 4.200 Höhenmeter. Nur eine Woche liegt mein Uphill-Everesting zurück. Vernünftige Periodisierung? Wurde zugunsten der Strecke über Bord geworfen. Der verschlafene Talort ist erwacht – das Läuferfeld verdreifacht für diesen Freitagmorgen die Einwohnerzahl. Das rhythmische UTMB-Klatschen weckt Erinnerungen an Chamonix. Doch bevor das Ziel in Obernai winkt, liegen viele Hügel vor mir.
Kontrollierter Sturm auf die Burg
Der Startschuss fällt. Erst leicht bergauf, dann wellig durch die Weinberge bei Saint-Hippolyte. Der erste Anstieg zur Haut-Koenigsbourg beginnt. Etwa 500 Höhenmeter – kontrolliert gestürmt. Wir alle wissen: Es wird ein langer Tag.
Die Sonne kündigt früh an, was sie heute vorhat. Ritter und Burgfrauen begrüßen uns auf den letzten Stufen vor dem Hauptgebäude. Der Trail führt durch antike Gemäuer, über Holzbauten und enge Stiegen. Flowige Serpentinen markieren den ersten Downhill – erinnernd an die wenigen schneefreien Abstiege der letzten Monate. Ich nehme Tempo raus, will meine Oberschenkel schonen. In Châtenois wartet die zweite Verpflegung. Ein längeres Flachstück – ungewohnt, fast vergessen. Ich bin nur bergauf trainiert. In Dambach-la-Ville zeigt meine Uhr 31 Kilometer. Ich liege im Zeitplan. Doch mein Körper rebelliert. Ultradistanz? Heute nicht.
Auf dem Boden der Realität
18 Kilometer, 900 Höhenmeter, drei Hügel. Die Sonne brennt. Der Flüssigkeitsverbrauch steigt. Zwei Maurten Packs zu Beginn, seitdem nur noch Näak Ultra Energy. 250 Kalorien auf 500 ml – mehr geht nicht rein. Zwei Kilometer nach dem letzten VP ist die erste Flasche leer. Die Beine: schwer wie Blei. Die Unterschenkel: unzuverlässig. Eine Unachtsamkeit – und ich liege auf dem Boden. Schmerz in der Schulter. Ich kann weiter. Dann der nächste Sturz, diesmal mit dem Kopf im Schlamm. Das Knie aufgeschlagen. Der Körper mahnt: Hör auf mich. Durstig und dehydriert quäle ich mich nach Andlau. Abtei, Schlösser, Gassen – ich nehme sie nur noch peripher wahr. Flüssigkeit! Ich tanke auf und ziehe weiter. Steil durch Weinberge. Ich erreiche Barr, 61 Kilometer. Ich packe eine zusätzliche 750-ml-Flasche ein. Essen? Noch immer unmöglich.
Schlösser, Festungen, Burgen
Die Strecke ist einfach – und doch komplex: Talorte, dann bergauf in den Wald. Oben eine Festung, ein Schloss oder eine Burg. Dann wieder bergab. Wiederholung mit Variation. Forstwege, Trails – mal flowig, mal steil, mal flach. Ein Traum für frische Beine. Ein Albtraum für meine heutige Form. Die Burg Landsberg erzählt von Kämpfen um Leben und Tod. Mein Aufstieg zum Odilienberg ebenso. Die Oberschenkel? Zerstört. Keine Frage der Ausdauer mehr. Nur noch Muskelkraft. Ich lege mich in den Wald. Beine hoch. Zehn Minuten Regeneration. Ich rechne. Noch 40 Kilometer. Das letzte Drittel ist nah.
Die Magie des letzten Drittels
Humpelnd starte ich. Hoffend. Und auf den Meter genau wird aus dem Humpeln wieder Laufen. Mit Stöcken. Ob bergauf, bergab oder flach – vier Kontaktpunkte sind besser als zwei. 18 Kilometer, 900 Höhenmeter. Es ist hart, aber machbar. Ich summe meinen TOR-Song: „I’m back in the game…“ In Klingenthal, bei Dämmerung, esse ich zum ersten Mal: eine Hand voll Salzbrezeln. Am künstlichen See der Verpflegungsstation will ich verweilen – doch der letzte Berg ruft: der Heidenkopf. Auch hier ist der Downhill die Herausforderung. Die Schmerzen sind erträglich. Traben ist möglich. Der Trail wird flacher. Dann: Rosheim. Noch sieben Kilometer.
Gedanken an außen und innen
Die Strecke: nun unspektakulär. Die Emotionen: umso spektakulärer. Zwischen Erschöpfung und Euphorie. Leiden mit Leidenschaft. Und immer wieder: Dankbarkeit. Zwanzig Schlösser haben wir passiert. Ich denke an Könige, Kronen, Feste. Und an Montaignes Verwunderung darüber, dass wir Menschen am Äußeren messen. Heute haben wir diese Masken abgelegt. Von Orschwiller nach Obernai haben wir Schutzschichten verloren, Energie verbraucht, literweise Schweiß vergossen. Modische Laufkleidung? Staubbedeckt. Stolz? In Demut verwandelt. Ein weißes Kreuz in den Weinbergen erinnert an die Vergänglichkeit. Wie privilegiert wir sind, 110 Kilometer lang in Frieden mit uns selbst zu kämpfen. Wäre das nicht der Weg zu einer besseren Welt? Kurz vor ein Uhr morgens erreiche ich die Festungsmauer in Obernai. Die Zuschauer stehen Spalier – selbst zu dieser späten Stunde. Eine Finishermedaille um den Hals. Und hinter dem Zielbogen wartet meine Prinzessin Basilia. Kein König könnte glücklicher sein.