Trail du Saint-Jacques: Dieses Finish ist für dich

Trail du Saint-Jacques by UTMB © Michael Förster

Imposant thront die Mariensstatue auf dem höheren der beiden Vulkankegel inmitten der französischen Stadt Le Puy-en-Valey. Häuser, Straßen, selbst die mächtige Kathedrale. Alles liegt ihr zu Füßen. Der Ort hat sich kreisförmig darum angeordnet. Eine stimmige Architektur für den Startpunkt des französischen Jakobswegs. Es ist der Abend vor dem Rennen. Ich setze mich auf eine Bank und blicke über den pittoresken Ort. Dann wieder hinauf zur Statue. Wie leicht ist es, Menschen durch Artefakte zu beeinflussen. Auch ohne religiösen Bezug symbolisiert die sechzehn Meter hohe Maria etwas Spirituelles. Für die auf ihrer Wanderung nach einem höheren Ziel strebenden Pilger die passende Einstimmung. Ich bin eigentlich hierher gekommen, um mit Basilia an den Start des Trail du Saint-Jacques zu gehen. Ich war gespannt auf eine mir noch unbekannte Gegend. Basilia wollte sich die Qualifikation für die UTMB-Finals im kommenden Jahr in Chamonix sichern. Doch es kam anders. Der Platz auf meiner Bank neben mir ist leer. Basilia liegt in München im Krankenhaus und wartet auf die zweite Operation nach einem Rezidiv-Bandscheibenvorfall. Nach einem Ärzte-Marathon über mehrere Tage bis zur finalen Gewissheit, dass nur eine Operation helfen würde, schickte Basilia mich alleine nach Frankreich. „Lauf für mich.“ Ein letztes Mal blicke ich hinauf. Dann auf dem Rückweg hinüber zur zweiten Basaltkuppe, auf der passenderweise die dem heiligen Michael gewidmete Kapelle Saint-Michel-d’Aiguilhe steht.

I like that!

Freitagabend, 24 Stunden später, sitze ich dichtgedrängt mit vielen hunderten Läufern in der großen Turnhalle im Startort Saugnes. Draußen hat es begonnen, leicht zu regnen. Fast alle Läufer ziehen ihre Regenjacken an. Ein US-Läufer kommt mir im T-Shirt entgegen. Ich frage ihn, „only shirt?“. „I like that!“ antwortet er. „Let’s go!“ 22 Uhr, der Startschuss fällt. Wir starten in die dämmernde Nacht. Hügelig, sehr laufbar, teilweise staut es sich. Macht nichts, das Rennen ist noch lang. Ich fühle mich gut. Erstaunlich gut. Vor zwei Tagen musste ich wegen Patellasehnenschmerzen meinen letzten Taperinglauf nach fünf Kilometern abbrechen. Doch heute ist Raceday. Darauf vertraue ich. Und auf die Wunder des Jakobswegs. Langsam beginnt es zu regnen. Die Wege werden enger. Der Regen mehr. Das Gefälle steiler. Und schon nach gut zehn Kilometern wird es ziemlich rutschig. Der Regen prasselt schon bald und nach der ersten Verpflegung waten wir Bäche hinauf. Das ist etwas anderes als die vorausgesagten Regenschauer. Trails verwandeln sich in Sturzbäche. Auf einem kurzen Asphaltstück kann man die Intensität anhand des Abpralls des Regens ablesen. Es gießt nun durchgehend in Strömen. Die Summe aller unerbittlich auf die Läufer herunterprasselnden Regentropfen ergibt einen nebligen Graugrundton, der einen wohltuenden Übergang zwischen dem Lichtkegel meiner Stirnlampe und dem Schwarz der Nacht ergibt. Ich bin „in the zone“. Konzentriere mich auf jeden Schritt, um nicht wegzurutschen. Am besten an der Seite auf dem Gras. Da habe ich zumindest etwas Halt. Auch die zweite Servicestation nutze ich nur zum Auffüllen meiner Flasks. Und bleibe im T-Shirt. Bewegung hält warm – trotz Nässe. I also like that!

Assoziationen im Morgengrauen

Der lange Downhill macht mir zu schaffen. Meine Schuhe haben zu wenig Grip. Unkontrolliert rutsche ich auf dem lehmigen Untergrund. Eine Schlucht beendet den Abstieg. Nun geht es wellig am Flussufer auf einem engen Singletrail zur nächsten Verpflegung bei Kilometer 40. Riesige Felswände säumen hier den Fluss. Der Trail gewinnt wieder an Höhe. Mehrmals rutsche ich seitlich weg. Untere Normalbedingungen ist auch dieses Stück bestimmt gut laufbar. Doch heute muss ich aufpassen, auf dem Weg zu bleiben. Wir verlassen die Schlucht oberhalb, um wieder abzusteigen. Dieser Prozess wiederholt sich mehrmals. Ich habe längst die Orientierung verloren. Ist es noch der gleiche Fluss oder sind es immer wieder neue Schluchten? Ich muss an das Konzept „Mise en abyme“ denken, ein Bild, das sich selbst als Bild enthält. Ein Läufer, auf dessen T-Shirt er selbst abgebildet ist und auf dessen T-Shirt erneut. Wörtlich übersetzt, bedeutet dieser Terminus auch „in den Abgrund gesetzt“. Wie passend zu diesen Schluchten. Man steigt in die Schlucht, um am Boden erneut die gleiche zu entdecken, und so weiter, ad infinitum. Zum Glück führt der Weg wieder aufwärts und beendet mein gedankliches Rätsel. Es ist fünf Uhr morgens. Und pünktlich entdecke ich am Horizont einen Lichtstreifen. Mit jedem Mal, mit dem ich hinüberblicke schiebt sich dieser weiter zu mir und drängt die Wolken zurück. Ich muss an eine Poolabdeckung im Schwimmbad denken, die morgens langsam zurückgefahren wird. Es sind die üblichen Assoziationen im Morgengrauen, schlafdefizitinduziert.

Keine Downtime ist für immer

Und wieder geht es hinunter in die Schlucht. Die Patellasehnen schmerzen bei jedem Schritt, vor allem bergab. Auch die Quadrizeps machen immer mehr zu. Erst fünfzig Kilometer. Rauf, runter, 60 Kilometer. Wieder rauf. Zur Lifebase bei 73 Kilometern. Ich fülle meinen Rucksack mit meinen Carb-Packs auf. Unterhalte mich mit Adrian aus der Schweiz. „Jetzt wird es hart“, sage ich ihm. „Dann musst du marschieren“, antwortet er mir. Und erstmal sieht es auch danach aus. Laufen, Hiken, Marschieren, Hauptsache weiter. Die Nässe hat zu einigen Aufschürfungen in der Intimregion geführt. Zum Glück helfen mir zweimal Läufer mit Vaseline aus. Die bereits nach 15 Kilometern schmerzenden Blasen an den Füßen sind überraschenderweise konstant geblieben. Egal. Es sind nur Schmerzen. Ich denke an Basilia. Was würde sie dafür tun, ihr Krankenbett gegen diese Trails zu tauschen. Dieser Gedanke relativiert alles. Bei Kilometer 95 finde ich auf einmal zurück ins Rennen. Kurz vor der Verpflegung bei 100 laufen wir um einen malerischen See. Ich fühle mich gut. Auch danach Uphill, Downhill, flach. Ich komme wieder schneller voran. Es ist mir immer wieder ein Rätsel, woher die Power auf einmal wieder herkommt. Warum Schmerzen wieder verschwinden. Aber genau dieses Findling fasziniert mich so an Ultras. Keine Entwicklung ist linear. Nicht nach oben, nicht nach unten. Immer volatil. Nach jedem Berg muss man ins Tal. Aber dann kommt auch wieder der Berg.

Ein letztes Mal

Die Schilder mit dem KM-Countdown lassen trotzdem lange auf sich warten. Noch 30, 25, irgendwann 15. Das Terrain ist nun flach. Es ist für den späten Nachmittag auch ziemlich warm. Ein richtiger Pilger kommt mir entgegen. Welche Mission mag ihn wohl antreiben? Eine WhatsApp von Basilia klingelt. „Go, go, der Zielberg wartet!“ Es sind noch einige Up and Downs. Fast habe ich auf der trockenen Steppe schon die Schluchten vergessen. Da geht es – schon beinahe symbolträchtig – nochmal in eine hinunter. Und irgendwann tatsächlich nach Le Puy-en-Valey. Ich kann nur noch bergab gehen. „Rien ne va plus“. Und doch gerade noch so viel, dass ich es hinauf auf die Basaltkuppe schaffe. Nach fast genau 23 Stunden bin ich im Ziel. Die 135 Kilometer mit knapp 6.000 Höhenmetern waren deutlich härter als erwartet. Ich rufe Basilia an. „Dieses Finish ist für dich“. Und auch wenn ich zwischenzeitlich überzeugt war, mir diese Qual nie wieder anzutun, verspreche ich ihr, zurückzukommen. Zusammen. Und auch wenn mit ihrer Nach-Operation kommende Woche ein weiteres Tal bevorsteht, bin ich mir sicher, dass auch hier mein Ultra-Learning zutrifft. Es geht wieder bergauf! Wie auf Bestätigung wartend blicke ich ein letztes Mal hinauf zur Marienstatue.

Michael Förster