Tor de Geants: Der Wolf läuft mit – Teil 1

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Mir ist kalt. Innerlich. Mein Körper zittert, immer wieder klappern die Zähne. Die Wolldecke auf meinem Feldbett wärmt mich nur unzureichend. Ich kauere mich zusammen. Versuche, die verbliebene Restwärme zu konservieren. Die Zeit würde ich auch gerne festhalten. Aber Minute um Minute verstreicht, während ich darauf warte, dass das fiebersenkende Medikament wirkt.

Alles hat so gut begonnen. Stark habe ich mich gefühlt. Die Beine locker. Gut bin ich über die ersten Pässe gekommen. Und ich dachte, die Hitze hätte ich auch im Griff gehabt. Sieben Liter Flüssigkeit habe ich auf den ersten fünfzig Kilometern getrunken. Genau nach Plan erreichte ich bei Sonnenuntergang den Col Crosatie. Und nach einem langen Downhill die erste Lifebase in Valgrisenche deutlich vor Mitternacht. Basilia erwartete mich schon mit einem Erdinger Alkoholfrei. Dazu Kartoffeln. Noch ging es mir gut. Doch innerhalb weniger Minuten wich die Farbe aus meiner Haut und die Kraft aus meinen Muskeln. Das Lagerfeuer half nur wenig, das Bett auch nicht mehr. Nun liegt die Hoffnung auf dem Dottore. Ich denke zurück. An die Enttäuschung beim Ausstieg im letzten Jahr. Nach 250 Kilometern. Ein Jahr akribische Vorbereitung liegt nun hinter mir. Zuversichtlich stand ich am Start in Courmayeur. Und doch der Unberechenbarkeit der Tor bewusst. Jeder kleine Fehler kann das Aus bedeuten. „In bocca al lupo“ sagt man im Aostatal, um sich Glück zu wünschen. Ich habe das Gefühl, der Wolf läuft mit und wartet nur auf seine Chance, zuzuschnappen.   

Restart

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Der Dottore checkt wieder die Temperatur. „Meglio“. Besser. Ich muss noch dreißig Minuten warten. Dann darf ich weiter. Ich fühle mich schwach. Die ersten Schritte sind wacklig. Aber die Zuversicht kommt zurück. Ich denke zurück an das Gespräch mit einem erfahrenen französischen Läufer letztes Jahr im Rifugio Coda. Es war kurz nach Mitternacht. Kalt und windig. Und niemand wollte raus aus der kuschligen Hütte. „It‘s better to move slowly than not to move at all.“ Zwei Stunden hatte ich verloren. Aber einen zweiten Start gewonnen. Ich verspreche mir, diese Chance zu nutzen. Whatever it takes. Langsam kämpfe ich mich zum Col Fenetre hinauf. Kontrolliert beginne ich den steilsten Downhill der TOR. Auch heute lösen wieder hinter mir laufende Teilnehmer Steinschlag aus. Doch ich fühle mich sicher. Ich bin die Passage vor kurzem bei Tageslicht abgelaufen. Ich kenne die beiden gefährlichen Rinnen. Zusammen mit Basilia habe ich einen passenden Rhythmus entwickelt. Schnell durch, dann kontrolliert weiter, kurz innehalten, das ganze nochmal, Turn und wieder von vorne.

Freundschaft

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Nach dem nächsten Tal geht es zum ersten Mal über 3.000 Meter hinauf. Angekommen auf dem Col Entrelor setze mich im Sonnenschein. Mich friert es noch immer leicht. Und ich liege hinter meinem Zeitplan. Doch ich komme vorwärts. Zügig, aber weiter kontrolliert laufe ich hinunter nach Eaux Rousses. Pasta zum Frühstück. Dann das Highlight der TOR. Col du Luson auf 3.299 Metern Seehöhe. Die Luft wird dünn. Ich zähle die Schritte bis zehn. Dann wieder von vorn. Ein erster Powernap am Rifugio Sella, dann hinunter zur zweiten Lifebase in Cogne.

Ich laufe an Pizzerias und Ristorante vorbei. Vor einigen Wochen war ich hier. Abends freute ich mich auf Pasta und Bier und danach erholsamen Schlaf, bevor es am nächsten Tag wieder auf den Berg ging. Heute muss ich auf den Schlaf verzichten. Eine halbe Stunde lege ich mich in die Lifebase. Das Liegen tut gut. Schlafen funktioniert nicht. In der Abenddämmerung breche ich auf. Ich denke zurück ans Vorjahr. Hier begann meine Tor der Leiden. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde jemand mit einem Messer tief unter die Haut meiner Zehen schneiden. Wie gut fühlen sich dagegen heute meine Füße an. Claudio hat sie mir am Tag vor dem Start in Courmayeur präpariert. So viel habe ich ihm zu verdanken. Basilia hat Claudio entdeckt. So viel habe ich ihr zu verdanken. Die relativ flache Passage bis zum Rifugio Dondena ist geeignet, mental zu ermüden. Ich bin froh über meinen französischen Begleiter. Er macht meist die Pace. Auch ihm habe ich etwas zu verdanken. Meine Stimmung wird zunehmend sentimental. Irgendjemand hat gesagt, die Tor macht aus Menschen Giganten. Ich glaube eher, die Tor lässt uns die wahren Giganten erkennen. Die majestätischen Berge. Ihnen ist es egal, ob wir es ins Ziel schaffen. Egal, wie es uns dabei geht. Die Tor lässt uns den Wert der Freundschaft erkennen. Gemeinsam können wir uns gegen diese widrigen Bedingungen besser behaupten.

Die Nacht ist pechschwarz. Den türkisblauen Lago Miserin können wir nur erahnen. Nur die Konturen der Madonna Neve schimmern leicht in der Dunkelheit.

Tradition versus Technik

Michael Förster bei der Tor de Geants © xc-run.de

Die ersten zwei Stunden Schlaf liegen hinter mir. Die letzten Kilometer bis zum tiefsten Punkt in Donnas noch vor mir. Hier fand ich letztes Jahr zurück ins Rennen. Ich summe meinen damals selbstkomponierten Refrain „I’m back in the game. At least for a few moments of fame. Suffering is no shame. Because there’s still a burning flame.“

Die Kilometer durch Donnas ziehen sich in die Länge. Es ist heiß. Es ist schwül. Das angekündigte Gewitter liegt schon in der Luft. Die Lifebase ist stark frequentiert. Basilia hat mir eine Matte auf dem Parkplatz ausgerollt. Kartoffeln, alkoholfreies Weißbier, Powernap. Und schon wartet die lange Etappe nach Gressoney. Die Schwüle macht jeden Höhenmeter zur Tortur. Der Schweiß fliest in Strömen. Ich nutze jeden Brunnen, um mein Cap einzutauchen und mir Wasser über den Kopf zu schütten. Die umliegenden Berge verschwinden zusehends in grauem Nebel. Donner ist aus der Ferne zu hören. Erster Regen fällt. In La Sassa wird eifrig diskutiert. Wetter-Apps sagen Regen voraus. Der Gewitter-Radar ist negativ. Doch ein Einheimischer ist aufgrund der Wolkenkonstellation zuversichtlich, dass das Gewitter vorbeizieht. Tradition versus Technik. Wir vertrauen dem Dorf-Metereologen. Der Anstieg zum Rifugio Coda beginnt. Hundert Meilen liegen dort hinter uns. Halbzeit. Die Hütte steht auf einem exponierten Grat. Der Wind pfeift. Unser an das Rifugio gebautes Zelt wehrt sich bereits beträchtlich gegen den Sturm. Immerhin finden wir hier Schutz. Doch freie Schlafplätze gibt es im Moment keine. Ich habe bereits alles an Kleidung angezogen, was mein Rucksack hergibt. Was soll ich tun? Weiterlaufen bis zum nächsten Rifiugio? Abwarten?     

Die Antwort erfahrt ihr in Teil 2 dieser Reportage

Michael Förster

Die Tor de Geants

Die Tor des Géants (Tour der Riesen) ist ein Ultratrail, der seit 2010 jährlich im Herbst im Aostatal stattfindet.

Der Start des Rennens befindet sich in Courmayeur im obersten Abschnitt des Tales. Das Rennen besteht aus einer einzigen Etappe, die in maximal 150 Stunden zu absolvieren ist. Die Strecke geht über 330 Kilometer mit 24.000 Metern Höhendifferenz. Sie folgt den beiden Hochrouten beidseits des Aostatals: zuerst talauswärts der Haute Route n° 2, die auf der rechten Seite der Dora Baltea verläuft, bis zum Umkehrpunkt im Tal und danach retour auf der linken Bergflanke über der Dora Baltea der Haute Route n° 1 bis nach Courmayeur. Der Weg überquert 25 Bergpässe und erreicht den höchsten Punkt auf etwa 3300 Metern über Meer. (Quelle: Wikipedia)