Die Bergstärke bestimmt die Ultra-Trail-Performance: Interview mit Sportwissenschaftler Simon De Waal

Ultra Trail Cape Town
Ultra Trail Cape Town © Nick Muzik Photography

Wie würde Eliud Kipchoge beim UTMB performen? Die Tempohärte des Kenianers ist legendär – aber kann er Ultradistanzen in den Bergen? Und wieso überpacen sich ambitionierte Trailrunner regelmäßig am Anfang des Rennens, während die Elite ihr unglaubliches Tempo auch zum Schluss noch halten kann? Solche Themen hat Sportwissenschaftler Simon De Waal erforscht. Wir trafen uns zum Interview und zum Nerd Talk.

Dichtes Gedränge im Startkanal. Vorne der Startbogen, die Laufelite, der weiße Startstrich auf dem Boden. Beim Startschuss peitsch das Adrenalin, die Profis sprinten los, die (über)ambitionierten Normalstarter ballern hinterher – und werden sich damit selber zerlegen. White Line Fever nennen viele das Phänomen, das wir fast alle schon erlebt haben.

Was uns Normalos später einbrechen lässt, ist für Profis wohlkalkulierter Extreminvest. Sie kennen ihre Grenzen und investieren entsprechend. Deshalb können sie das hohe Tempo auch zum Schluss noch halten. Wer von ihnen die besten Karten hat, lässt sich vor allem über ihre Stärke bei Bergaufläufen abschätzen, erklärt Simon De Waal.

Er ist Sportwissenschaftler aus Südafrika und hat gerade seine dritte Publikation zu diesem Thema veröffentlicht. Dazu hat er Ergebnisse und Segmente vor allem beim Ultra Trail Cape Town analysiert und bei seiner letzten Studie auch dezidiert mit Finishern des 100k Laufes gearbeitet.

Simon, deine Studien haben gezeigt, dass das klassische Wissen über Tempo und Pacing im Ultramarathon auf bergigen Trails kaum aussagekräftig ist. Warum nicht?

Die meisten Theorien und Orientierungen zum Thema Pacing kommen aus Läufen in der Ebene – also Straße oder Bahn. Aber diese traditionellen Leistungsmerkmale sind nicht 1:1 auf das Trailrunning anwendbar – obwohl das in der Literatur oft versucht wird, weil Trailrunning als Sportart erst später etabliert wurde und es die Theorien aus dem Marathonlauf und Straßenlauf da schon gab. Aber jeder, der schon einmal in den Bergen gelaufen ist weiß, dass das in Bezug auf die Anforderungen an den Körper extrem anders ist.

Viele Modelle schauen sich das Zusammenspiel von drei Faktoren an:

  • maximale aerobe Kapazität
  • Laktatschwelle / anaerobe Schwelle
  • Laufeffizienz / Laufökonomie

Es wird versucht, anhand dieser drei Faktoren ein Modell zu erstellen, das die Leistung auch bei Ultra-Trails vorhersagt. Beim Straßenlauf ist das sehr verlässlich, aber beim Trailrunning passt das nicht, da wir hier sehr unterschiedliches, oft technisches Terrain und teils harte Steigungen einrechnen müssen.

Und du hast mehr Aussagekraft bei Leistungen im Bergauflaufen entdeckt?

Ich habe eine klare Indikation bei moderaten bis steilen Bergläufen festgestellt. Ich habe mir dafür die Bergaufleistungen und die generelle Rennleistung von Startenden beim Ultra Trail Cape Town angesehen. Das Ergebnis war deutlich: Wer stark im Uphill war, hat auch insgesamt besser abgeschnitten. Das liegt vor allem daran, dass wir bergauf deutlich langsamer sind und dabei sehr viel Zeit und Energie verbrauchen. Wer hier besser ist, hat also strategische Vorteile. Das heißt nicht, dass Laufen in der Ebene oder schnelle Downhills nicht wichtig sind – aber die größte Aussagekraft hat statistisch deutlich die Performance im Bergauflauf.

Was heißt das fürs Training?

Nur mit flachen Läufen auf einfachem Terrain wirst du nicht weit kommen. Du musst spezifisch trainieren. Und je steiler die Anstiege sind, desto besser – bis zu einem gewissen Grad natürlich. Wir haben im Labor Läufe bei 25 %, 10 % und 5 % Steigung analysiert. Laufökonomie und Effizienz waren bei 25 % Steigung deutlich bessere Leistungsindikatoren als bei 10 % und 5 % Steigung.

Wer schonmal in der Natur eine 25 % Steigung gelaufen ist, weiß wie steil das ist. Und da müssen wir unsere Körper hochschleppen. Wenn du also effizienter wirst und solche Steigungen schneller und lockerer überwindest, wird sich deine Leistung beim Trailrun merklich steigern. Klare Empfehlung also: Lauf Steigungen – steile und moderate sowie in unterschiedlichem Gelände.

Reden wir bei 25 % Steigung eigentlich noch vom Laufen oder von Powerhiking?

Gute Frage, denn hier beginnen die Nuancen. Generell werden viele Läuferinnen und Läufer im Laufe des Rennens viel langsamer – vor allem bergauf. Am Anfang laufen sie vielleicht noch hoch, später wird es ein stoisches Gehen. Das ist per se nicht schlimm, wenn wir im Gehen das Tempo halten. Wer ein nahezu gleiches Tempo hiken kann, spart also Energie, denn die Stoffwechselkosten steigen beim steilen Laufen dramatisch. Unter anderem der Sauerstoffbedarf ist viel höher und die Laufökonomie verschlechtert sich beim Laufen im Vergleich zum Gehen.

Es ist aber auch eine Frage der Einstellung. Vielleicht möchtest du zeigen, dass du locker und entspannt läufst, während der andere schon gehen muss. Vielleicht möchtest du aber auch versuchen, etwas schneller voranzukommen, weshalb du vielleicht in einen leichten Laufschritt übergehst. Es ist vielschichtig und hat mit deinem körperlichen Können, aber auch den mentalen Zielen zu tun.

Heißt das auch, dass die Uphills in Ultratrails entscheiden, wer gewinnt, weil dort im Zweifel zu viel Energie verbraucht wird, die dann später fehlt?

Auch das ist komplex. Der Berglauf hat einen hohen metabolischen Preis. Wenn man bergab läuft, ist die Belastung für den Körper anders. Der Stoffwechsel ist nicht so beansprucht. Die Herzfrequenz steigt nicht so stark an. Die Atmung kann langsamer oder etwas kontrollierter sein. Dafür musst du hohe vertikale und horizontale Bodenreaktionskräfte bewältigen. Du bremst im Grunde den ganzen Berg hinunter.

Das Ergebnis sind exzentrische Muskelkontraktionen, die einen hohen Grad an Muskelabbau und damit – vor allem je länger der Lauf wird – einen Leistungsabfall als Preis haben. Bei Elite-Läufern ist dieser deutlich kleiner als bei den normalen Läufern. Vergleicht man die Downhill-Geschwindigkeiten am Ende des Rennens mit der durchschnittlichen Leistung im Rennen insgesamt, laufen die Elite-Läufer am Ende deutlich weiter über ihrem Renndurchschnitt, als normale Läufer. Das ist sehr spannend, denn am Anfang des Rennens ist das noch ganz anders. Dann sind die normalen Läufer viel weiter über ihrem Renndurchschnitt, als die Profis.

Du meinst, dass viele normale Läufer am Anfang im Vergleich zu ihrem Durchschnitt im gesamten Rennen sehr schnell sind. Auch Profis sind am Anfang schneller, liegen aber prozentual lange nicht so weit über ihrem Durchschnitt. Sie kontrollieren sich also und haben am Ende Reserven. Das ist per se nichts Neues. Warum reißt es uns trotzdem immer mit?

Ein wichtiger Grund ist auf jeden Fall der Herdentrieb – wenn mir der Begriff hier gestattet ist. Du hast für den Wettkampf trainiert, dich drauf gefreut, stehst im Startkanal, das Adrenalin pumpt und plötzlich ballern alle los… Da rennst du mit.

Bessere Läuferinnen und Läufer gehen etwas konservativer ins Rennen und kommen stärker ins Ziel. Schwächere laufen härter los und kommen langsamer ins Ziel. Speziell beim Ultra Trail Cape Town konnten wir feststellen, dass die langsameren Läufer und Läuferinnen im Vergleich zu ihrem Durchschnittstempo am Anfang deutlich schneller laufen, als die Top-10-Läufer im Vergleich zu deren Durchschnitt – auch wenn die Pros natürlich trotzdem schneller sind. Aber ihr Durchschnitt ist ja auch deutlich höher.

Kommen wir nochmal aufs Training. Was sind deiner Erfahrung nach die am meisten verbreiteten Fehler, die wir machen?

Wir setzen uns oft unrealistische Ziele und Zeitpläne und erwarten zu viel von uns. Manche wollen verrückte Ziele innerhalb kürzester Zeit erreichen. Das Ergebnis ist dann oft eine Verletzung, weil man den Körper zu früh zu sehr belastet. Gute Leistungen im Ultratrail brauchen Zeit und viel spezifisches Training. Lass dir also Zeit, um dich auf diese Distanzen vorzubereiten.

Der zweithäufigste Fehler, den ich beobachte, ist, dass man beim Training nicht spezifisch genug ist. Wenn du ein Bergrennen laufen willst, musst du Zeit in den Bergen verbringen. Jedes Trail-Rennen ist einzigartig. Deine Vergleichszeiten haben nur dann wirklich Aussagekraft, wenn deine generelle Uphill-Leistung mit eingerechnet werden kann. Trainiere also möglichst so, wie das Rennen sein wird.

Außerdem ist die Intensität wichtig. Viele machen ihre langsamen Läufe zu schnell und ihre schnellen Läufe zu langsam. So gibt man dem Körper kaum eine Chance, sich für die nachfolgende harte Trainingseinheit zu erholen. Wenn die lockeren Läufe zu hart sind, dann ist dein Körper nicht in der Lage, den harten Reiz z. B. eines Bergintervalltrainings zu verarbeiten. (ein klassisches Intervall-Training am Berg findet ihr hier)

Parallel dazu erleben wir jetzt schon, dass wir in Daten und Analysen zu unseren Läufen fast ertrinken. Aber verstehen wir die ganzen Daten eigentlich? Schau dir z. B. die unterschiedlichen Daten von bergauf und bergab an. Du könntest bergab laufen und denken, dass deine Intensität nicht so hoch ist, weil du auf deine Herzfrequenz schaust. Oder du könntest bergauf laufen und denken, dass deine Intensität nicht sehr hoch ist, weil du auf deine Geschwindigkeit schaust. Das sind zwar sehr banale Beispiele, aber sie zeigen, dass beides Trugschlüsse sind. Es würde uns gut tun, etwas von dem Strava- und Garmin-Lärm und all diesen Dingen auszublenden und wieder voll und mit Freude im Moment und beim Laufen zu sein und ein gutes Gespür für unseren Körper zu haben.

Was ist eigentlich dein persönlicher sportlicher Hintergrund?

Simon De Waal beim Ultra Trail Cape Town
Simon De Waal beim Ultra Trail Cape Town © Sportograf GmbH & Co KG 2019 / Ultra Trail Cape Town

Ich komme ursprünglich aus dem Feldhockey, so wie viele andere Trailrunner in Südafrika auch, siehe z. B. Toni McCann. Ich bin in Kapstadt in der Nähe des Tafelbergs aufgewachsen, habe Trailrunning aber erst mit Anfang zwanzig für mich entdeckt. Ich würde mich als guten Amateurläufer bezeichnen, der normalerweise in der Kategorie „Best of the Rest“ antritt – hinter der Elite oder den Profis.

Ich habe Sportwissenschaften vom Bachelor bis zum Master studiert und promoviere jetzt. Seit 2017 unterrichte ich Sportwissenschaften – bis 2022 an der Universität Stellenbosch und jetzt an der Universität Gloucestershire (UK) als leitender Dozent und akademischer Kursleiter in unserem Sportleistungsprogramm. Ich trainiere in Teilzeit Trailrunner über „Rooted in Dirt“ und beginne, mich über UK Athletics in der Laufszene des Vereinigten Königreichs einzubringen. Ich betreue mehrere Forschungsprojekte von Bachelor- bis zu Doktorarbeiten in den Bereichen Trailrunning und Trainingsbelastung im Fußball.

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