Enge Gassen durchziehen die pittoreske Ansammlung traditioneller Steinhäuser. Dies ist die historische Seite Ordinos, einem kleinen Ort am Talzugang unterhalb des Sorteny Nationalparks. Moderne Straßen mit Fahrradstreifen und via Sensorik heranfahrende Fahrzeuge erkennende Ampeln bilden hierzu den modernen Kontrast. Der Fokus auf Funktionalität bei gleichzeitig hohem Qualitätsanspruch führt dazu, dass die offensichtlichen Kontraste nicht störend wirken. Tradition und Moderne greifen vielmehr wie millimetergenaue Zahnräder ineinander. Überhaupt wirkt das nur 468 km² große Andorra wie ein Miniaturmodell des perfekten Staates im Büro eines Architekten. 92% Natur versus 8% bebauter bzw. landwirtschaftlich genutzter Fläche. Es ist genau diese Reduktion auf das Wesentliche und Funktionale, das die Artefakte in die ursprüngliche Natur einbettet. Redundanzfreie Komplementarität der Bestandteile Natur und Kultur.
Start des K50 Rennen
Gedanken, die mich kurz nach der Durchquerung La Cortinadas den steilen Anstieg hinauf begleiten. Der erste Berg liegt bereits hinter mir. Unmittelbar ging es heute Morgen hinauf über den Coll d‘Ordino, nur um kurz darauf einen noch steileren Singletrail kontrolliert hinunterzustürzen. Gerade einmal fünfzehn der fünfzig Kilometer liegen hinter uns. Und doch kämpfen viele in meiner Peergroup bereits sichtlich gezeichnet damit, ihr Tempo halten zu können.
Ich denke an Basilia. Dreizehn Stunden vor mir ist sie gestern gestartet. Die K105-Strecke führte sie nach wenigen moderaten Kilometern direkt zu diesem Anstieg. Auch der anschließend seitwärts verlaufende Singletrail hinüber zum Refugi Pla de l‘Estany ist identisch. Nur die beiden gemächlich dahin wandernden Kühe waren gestern wahrscheinlich nicht auf dem Weg. Ein schneller Antritt, gefolgt von einem kurzen Sprint durch Gestrüpp ließ uns zu dritt die Safercows überholen.
Am Refugi trennen sich die Wege unserer beiden Strecken. Mehr als ein halber Tag trennt Basilias und meine Ankunft an diesem idyllisch hinter einem kleinen Teich liegenden Häuschen. Gestern Abend konnte ich Basilia noch auf dem Internet-Live-Stream verfolgen. Angriffslustig und kraftvoll kämpfte sie sich an Position zwei liegend den steilen Hang des mit 2.942 Meter höchstgelegenen Gipfel Andorras des Pic Comapredrosas hinauf. Bis zum Abstieg zum gleichnamigen Refugi wartete ich noch, bis ich einigermaßen beruhigt ins Bett ging. In Gedanken lief ich mit Basilia durch die Nacht. Steinige Trails der Pyrenäen, im Schwarz der Nacht versunkene Grasflanken, felsige Abbrüche begleiteten mich in unruhigen Schlaf. Mein Ruhepuls fühlte sich deutlich höher als sonst an. Ob Basilia im Gegenzug durch eine effizientere Herzleistung profitierte? Unwahrscheinlich.
Die Wege treffen sich
Mein Weg führt vom Refugi erstmal steil nach unten, nur um sich kurz darauf wieder vertikal entgegengesetzt nach oben auszurichten. Weit oben dokumentiert ein tosender Wasserfall die Macht der Pyrenäen. Hier weiter unten schlängeln sich die Ausläufer lieblich und mäandernd, die Steine mal überlaufend, mal umkreisend nach unten. Der Aufstieg in moderater Steigung liegt mir. Bald erreiche ich das Refugi Comapredrosa. Hier vereinen sich Basilias und mein Weg wieder. Wenn auch nur in räumlicher, nicht zeitlicher Dimension. Wie erging es ihr hier wohl? Ich versuche der kargen Stube eine Antwort zu entringen. Furchterregende Sagen berichten vom sich in alte Gemäuern verkriechenden Spuk, der die schauerlichen Geheimnisse der Vergangenheit vor der Nachwelt verborgen halten will. Und doch verbleiben sie. Und offenbaren sich dem mit hoher Sensitivität ausgestatteten Betrachter. Dieses Feingefühl fehlt mir heute. Nichts deutet hin auf den sich hier in der letzten Nacht ausgetragenen Kampf der Läuferinnen mit sich selbst hin. Die Schweißtropfen sind getrocknet, der heiße Atem hat sich inzwischen gelegt. Neuer Schweiß, neuer Atem hat das Vakuum gefüllt. Basilia wird mir später erzählen, dass es ihr hier sehr gut ging. Der Pfad schlängelt sich erst leicht, dann stärker ansteigend auf den Grat. Diesen verlassen wir kurz darauf zur anderen Seite. Langgezogen queren wir im oberen Abschnitt die Geröllflanken, auf denen weiter unten auch wieder Gras zu finden ist. Ein letzter Kilometer auf der Straße zum Coll de la Botella. Nun wartet auf mich der finale Downhill. Doch zuerst fordert ein welliger Seitwärtsweg noch mal meine läuferischen Qualitäten. An den Berggipfeln sammeln sich nun immer mehr dunkle Wolken und verdrängen die letzten Sonnenstrahlen. Mit einer Linkskurve läutet der Trail nun den Downhill ein. Ruppig, steinig, wurzlig geht es nun schier endlos nach unten. Ein kurzer Regenschauer steht symptomatisch für das hier schnell wechselnde Wetter. In Sispony fülle ich nochmal meine Trinkflaschen auf. Bald erreiche ich die Schlucht Gorja de la Grella.
Getrennte Wege
Hier teilt sich die Strecke. Ich kämpfe mich nun mit einigen Mitstreitern leicht ansteigend die letzten vier Kilometer über La Massana hinauf nach zum Ziel in Ordino. Nach kurzen Gehpausen zwinge ich mich immer wieder in den Laufschritt. Eine letzte Treppe führt hinauf in die Fußgängerzone und der rote Teppich liegt bereit für die letzten Meter zum Zielbogen. Nach knapp 9 Stunden stoppe ich meine Uhr. Basilia wartet freudestrahlend auf mich. Ich habe es just in time zu ihrer Flower Ceremony geschafft. Nach über 20 Stunden lief sie am frühen Nachmittag als dritte Frau durch den Zielbogen. Ich gratuliere Basilia und der Siegerin, unserer Freundin Ildiko Wermescher. Die Emotionen der Ceremony lassen mich meine Erschöpfung vergessen. Bei Pasta und Cola im Athletes Garden spüre ich dafür nun jeden Muskel. Und höre Basilia gespannt zu.
Die zweiten 50
„Kurz vor Andorra la Vella spürte ich erstmals muskuläre Erschöpfung“, berichtet Basilia aufgeregt. „Der Downhill vom Gipfel bis hinunter in die Hauptstadt auf 1010m betrug fast 2000 negative Höhenmeter. Ich musste dem hohen Tempo Tribut zollen und stürzte mehrmals. Ich trank nur kurz etwas und machte mich gleich wieder auf den Weg. Leider klappte das Laufen auf den einfacheren Abschnitten nicht so wie sonst. Ildiko und Silvina überholten mich wieder. Sie hatten anscheinend etwas länger Pause gemacht. Nun begann das Rennen gegen mich selbst. Ein langer Anstieg führte mich nun in wechselnder Steigung über Ramio und Refugi de l’Illa zum Collada pessos auf 2828m. Gerade als ich den höchsten Punkt erreichte, brach der Tag an. Ich schaltete meine Stirnlampe aus und bewunderte die Morgenröte und den kurz darauf folgenden Sonnenaufgang. Den Sonnenuntergang erlebte ich genau auf dem ersten höchsten Punkt, dem Pic Comapredrosa. Was für ein Timing. Zweimal hintereinander!
Nun ging es in das auf über 2.000 Meter gelegene Hochtal Grau Roig. Vielleicht war es die bezaubernde Landschaft. Auf jeden Fall ging es mir wieder besser. Seit Andorra la Vella lief ich immer wieder mit dem spanischen Läufer Pol. Unser Rhythmus passte nicht ganz zueinander, aber zumindest trafen wir uns immer wieder. Mehrere kürzere An- und Abstiege über den Pic de Maià auf 2615m, Incles, Els Plans und schließlich den Col d‘Arenes auf 2538m folgten. Vor dem finalen Grat wartete ein weiteres Highlight der Strecke auf mich. Die Tibetan Bridge, eine 600 Meter lange Hängebrücke. 158 Meter blickte ich leicht schaukelnd in die Tiefe. Ohnehin kam es mir durch Schlafentzug und Erschöpfung vor, als wäre Hochprozentiges in meinen Flasks gewesen.
Der finale Grat
Trotz des Adrenalinkicks auf der Brücke spürte ich zunehmend meine Erschöpfung und Müdigkeit. Doch am letzten Col war ich plötzlich wieder hellwach. Ein steiler Schotterhang lag vor mir. Kein Weg, nur eine fußbreite Spur. Ich bekam Panik. Ich fühlte mich eh schon wacklig auf den Beinen. Zum Glück war mein spanischer Begleiter wieder zur Stelle und machte mir Mut. Es waren nur etwas über fünfzig Meter. Zusammen gingen wir hinüber. Das Schlimmste war geschafft. Lange ging es nun bergab. Zuerst technisch, ab dem Refugi de Sorteny einfacher. Nach der langen Einsamkeit auf Gipfeln, Pässen und Gratbegehungen sehnte ich mich schon länger wieder nach Zivilisation. Ich freute mich über jedes „Hola“ oder „Bon dia“ der wenigen Wanderer. Ich freute mich über die paar Häuser in El Serrat. Bei der 100-Kilometer-Marke querte ich die Straße in Llorts genau vor unserer Unterkunft. Mein Herz hüpfte. Ich drehte mich zum wiederholten Male um. Keine Läuferin hinter mir. Vor mir auch nicht. Am kleinen Fluß konnte ich nun die letzten Kilometer nach Ordino genießen. Es hatte irgendwie etwas von nach Hause kommen. Der rote Teppich durch die wunderschöne Altstadt, die jubelnden Menschen. Chamonix im Miniaturformat. Ich freue mich riesig über das Podium bei meinem ersten UTMB World Series Rennen. Und damit die Qualifikation für das Finale 2023 in Chamonix. Noch mehr – glaube ich – freue ich mich aber, dieses wunderschöne, kleine Land in einem Tag fast komplett durchlaufen zu haben. Vieles werde ich mir noch genauer anschauen.“